Kategorie: Früher

Früher -in der DDR- haben die Erdbeeren besser geschmeckt und die Bäckerläden waren herrlich, sonst war nichts gut

Petite Cuisine, 19.04.22

Nachtrag zum Spiel der Eintracht gegen Union.
Es geht nicht um unsere schlechte SGE am Sonntag, sondern um vergangene Zeit. Vor etwa fünfunddreißig Jahren in der DDR-Oberliga-Saison 1987/88, als mancher auf dem Kopf mehr Haare hatte oder vorne kurz und hinten lang trug, hielt Union im letzten Spiel gegen Karl-Marx-Stadt die Klasse.
Ein Dokumentarfilm der DEFA (DDR-Filmstudio) zeigt davon ausgehend unfreiwillig die Gemengelage der späten DDR. Noch wird alles gedeckelt, mindestens wird es versucht, durch die Staatsmacht. Aber kaum fällt der Deckel wenige Monate später, implodiert das alte System wirtschaftlich und moralisch. Die Reste werden treuhänderisch kapitalistisch verwertet.
Viele Gedeckelte sind resigniert in den Westen abgehauen, wie ich.
Oder die wenigen aus moralischen Gründen Gebliebenen, sahen sich verwundert um, weil ihre demokratischen Diskussionsforen, kaum geschaffen innerhalb von Tagen, politisch obsolet waren.
Oder die vielen unentschlossenen, angepassten, ängstlichen, nörgelnden Gebliebenen interessierten sich ausschließlich für Videorekorder, Marlboro und Westautos.
Oder die jungen Gebliebenen – in Wirklichkeit Verlassenen – schlugen auf alles mit allem ein, weil die roten Linien verblassten, die Warnschilder eingetreten waren. Eigentlich aber entpuppte sich die Kindheit als samtene Hölle, und die Zukunft war ungewiss. Einer, der diese Wucht von beiden Seiten an den gleichen Orten meiner Kindheit, die ich eine paar Jahre älter vorher verlassen hatte, erlebt hat, fasste diese Zeit um 1990 im Titel seines Romanes „Als wir träumten“ zusammen.
Dies alles lässt die Doku erahnen: DDR-Muff, Bierseligkeit, Vereinsmeierei, Empörung, Aggressivität, Religiosität.
Diese Vergangenheit, im Form der Hymne von Nina Hagen und der DDR-Geschichte des sich in meinem Alter befindlichen Union-Präsidenten Dirk Zingler spielt bis heute eine gewisse Rolle. Interessiert immer weniger. Mich schon.

… und freitags in die „Grüne Hölle“
DEFA-Dokumentarfilm, 1989, Regie: Ernst Cantzler
Am 28. Mai 1988, nachmittags, passierte in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) das Wunder: in der allerletzten Minute des letzten Punktspiels der Oberliga-Saison rettete sich der 1. FC Union mit dem einen Siegtor zum 3:2 vor dem Abstieg. Während der Oberliga-Saison 1987/1988 begleitet ein Filmteam der DEFA einen der zahlreichen Fanclubs des 1. FC Union Berlin mit der Kamera. Der Film zeigt viele persönliche Momente zwischen Sieg und Niederlage. Eine imposante Dokumentation – nicht nur für Fußballfans.

Info über die Doku

Podcast aus Unionumfeld über die Doku

Union Präsident Dirk Zingler erklärt, warum er als Jugendlicher, anstatt den verpflichteten anderthalb Jahre Wehrdienst bei der DDR-Armee, sich freiwillig einen dreijährigen Wehrdienst beim Wachregiment des Ministerium für Staatssicherheit angetan hat.

Zeitgleiche Aufnahme einer Gesprächsrunde bei Union 06, dem Westberliner Ableger von Union mit viel Lokalkolorit und zu viel Geschichten und Namen. Erinnert an Tresengespräche der Vowi, wenn es um die Eintracht geht, dennoch im Ton gar nicht weit weg.

Petite Cuisine, 18.11.21

1977, im Ferienlager als Thälmann-Pionier

Wer es sich nicht vorstellen kann, es vergessen, es nie interessiert, es nie geglaubt hat oder einfach zu jung ist, wie es Drüben, im Osten, in der Zone, in der Tätära, in dem Drecksland, im Arbeiter und Bauern Paradiesso war, kann sich jetzt im Kino den Film „Lieber Thomas“ ansehen. Es ist die Lebensgeschichte des Schriftstellers und Filmemachers Thomas Brasch. Ein charismatischer Typ, aus einer untypisch typischen DDR-Familie, dessen Eltern und Geschwister das „Leben“ in der DDR im wahrsten Sinne ausgelöffelt haben. Ob es geschmeckt hat, darüber gehen die Meinungen auseinander. Neben der sehr interessanten (neudeutsch spannenden) Figur des Künstlers Thomas Brasch, erzählt der Film, wie er mit Druck, Repression, Verratsvorwurf, Vertreibung, moralischen Dilemma und Verlust der Heimat umgegangen ist. Im Bewusstsein dabei zu scheitern, lieber zu viel als zu wenig „zu leben“, im Zweifel mit Drogen, balancierte er im Schneckentempo, meistens aber im Galopp, durch sein Leben.


Trailer Lieber Thomas

https://youtu.be/Zks9K9ylZuo


Lebensgefährtin und Stieftochter lesen Brasch

 https://youtu.be/0JDd8P5er5o

Thomas Brasch erhält den Bayerischen Filmpreis 1981 mit mittleren Eklat und Franz Josef Strauß

https://youtu.be/bYX-tY_pnu0

Petite Cuisine, 23.09.21

Facebook hatte eine Fotocollage des Ukrainers Roman Pyatkovka aus der Reihe „Sandwich memory“ https://cargocollective.com/pyatkovka/Sandwiches-memory

von seiner Seite genommen, als ich es vor einiger Zeit dort reingestellt hatte. Es ging mir dabei um die Erinnerung von Nacktheit im Sozialismus. Facebook interessiert dies natürlich nicht. Das sieht nur bzw. deren KI-Logarithmen zu viel oben und vor allem unten rum. Ich starte einen neuen Versuch.

Jetzt ist Notwendiges von mir bedeckt gehalten!

Petite Cuisine, 07.09.21

Auf dem Foto ist der Elster-Saale-Kanal zu sehen. 

Ein kleines Paradies, was Nacktheit betraf, in der Leipziger Tieflandsbucht.

Er fängt im Westen von Leipzig an und endet in einem sanften Rundbogen weiter westlich in Sachsen-Anhalt. Seine Geschichte interessiert hier nicht. Das von uns „Kanal“ genannte flussartige Gewässer ohne Quelle und Mündung war im Sommer ein beliebter Ausflugsort. Wir fuhren mit dem Rad dorthin zum Baden. Leipzig ist in der Fläche recht groß. Auch, wenn der „Kanal“ in der Stadt anfängt, brauchten wir einige Zeit, um am Kanal weiterzuradeln und eine freie Stelle zu finden, wo wir uns niederließen und wo es jeder und jedem selbst überlassen war, ob sie mit Bikini und er mit Badehose oder besser ohne badete. Natürlich gingen wir als Jugendliche nackt ins Wasser. Das war für uns selbstverständlich, weil für uns Nacktheit kein Grund zur Scham sein durfte. Warum sollten wir uns vor uns selbst verstecken? Warum sollten wir in unserer gelebten (DDR-) Wirklichkeit genauso verklemmt und auf der anderen Seite so steril, wie in der Öffentlichkeit postuliert, damit umgehen.

Wie überhaupt ein Großteil unseres Lebens in der DDR und den ehemaligen sozialistischen Staaten darin bestand, die gesetzten Strukturen zu umgehen.Die Nacktheit von damals habe ich jetzt wieder entdeckt in den Collagen des ukrainischen Fotografen Roman Pyatkova.

Er collagiert in Foto-Reihen Nackte mit typisch staatstragenden Motiven der ehemaligen sozialistischen Länder.

So nackig waren wir damals.

Die Darstellung der damaligen Nacktheit habe ich an Frisuren, Schambehaarung und den Posen der Personen wiedererkannt. Keine und keiner kam damals auf die Idee, sich unter den Achseln und in der Scham zu rasieren. Heute ist es andersherum. Als Frau muss man besonders selbstbewusst oder mindestens älter sein, um sich wenigstens nicht unter den Armen zu rasieren.Aber Körperbehaarung oder die Begriffe, für was da umhaart wird, sind der Mode unterworfen. Puller und Pullu sagt auch keiner mehr.Die Posen sind es, die mir die Erinnerung zurückbringen.Sich nackt fotografieren zu lassen, setzt Erfahrung voraus oder Selbstbewusstsein. Ich tippe auf Selbstbewusstsein, den tagtäglichen sozialistischen Alltag zu umgehen. Konfrontation, brutale Gegenwehr führte zu drakonischen Strafen des Staates. Im Privaten oder öffentlich unter dem Mantel vermeintlich sozialistischer Pflichten lernte man zurechtzukommen. Immer dabei, sich selbst ein Stück freie Entscheidung zu bewahren. Seine Seele nicht vollständig zu verkaufen. Eigensinn, Verschrobenheit, Spitznamen für alle. Der Wirklichkeit etwas entgegenzusetzen. Empfindsam zu bleiben für jeden Hauch. Ob es der Duft der Freiheit, die Unbeschwertheit der Jugend oder nur der Mundgeruch des Nachbarn war, müsste ich nachlesen.

Diese merkwürdige Mischung zwischen Eigensinn und Parteivorgabe umgeben von Wissenschaftsgläubigkeit und Kriegserlebnis spiegelt der DEFA-Film Beschreibung eines Sommer mit Manfred Krug von 1962 wieder. Alles ist ganz einfach, auch wenn du etwas falsch machst, wird dich die Partei wie ein guter Vater zur Verantwortung ziehen, dich aber immer in seine Arme nehmen. Seine Liebe entzieht er dir dann, wenn du nicht mehr weißt, was du lieben sollst. Doch was für ein Mensch kannst du sein, der dies nicht mehr weiß. Und ganz sicher lässt du dich nicht nackt fotografieren.

Rote Bete in der Leipziger Tieflandsbucht

秋の国民経済
Kaltes Gemüse
blattlos vom Baum geflüchtet
segelnd vor dem Wind
Shintarō Katsu, Die Kunst der trockenen Gartengestaltung im Klang der Shakuhachi

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In alten Zeiten war es kein Thema, auch gegen 02.45 Uhr in Dauerschleife den letzten Eintrachtsieg im TV in der Kneipe zu sehen. Es war noch so halbwegs offen.
Als gestern Nacht 02.45 Uhr unserer Zeit in den USA das erste TV-Duell zwischen Amtsinhaber und Herausforderer lief, war die Vowi schon lange zu. 
Die Zeiten haben sich geändert? 
Quatsch-Platsch!
Wir haben uns verändert?
Pitti-Platsch!

Spannen wir den Bogen der Geschichten:
Gestern gab es in der Vowi zur Petite Cuisine herbstliches Gemüse. Treffend wird diese Jahreszeit in dem oben zitierten japanischen Minigedicht festgehalten. Dabei ist der Augenblick flüchtig, dennoch fest in seiner Zeit.
Das illustrierende Foto ist unlängst bei Leipzig aufgenommen. Eine der renaturierten Nidda im Norden von Frankfurt entsprechende Landschaft ist zu sehen. Die Leipziger Tieflandsbucht ist jedoch karger. Vor vierzig Jahren sah es hier, wie in eine Mondlandschaft aus. Man siedelte um, grub metertiefe Löcher, der Kohle wegen im Tagebau. Dazugehörige Kohlekraftwerke in der Region machten es unmöglich, die Wäsche im Freien zu trocknen. Schwarz auf weiß. Der Staat brauchte die Kohle. Es sollte für dreißig Jahre reichen. Hat nicht gereicht. Die ganze DDR (als gesellschaftliches System) hat nichts erreicht und nichts verdient, außer einen Tritt auf den Haufen der Geschichte. Das viele, die ich kenne, daran beteiligt gewesen sind, zu treten und sich nicht, dem damals geläufigen Motto, dass man ja eh nichts ändern kann, mutlos gleichstellten, macht mich „…zufrieden, ruhig und glücklich!“. 

Eine anschauliche DDR-Doku von 1980 über Umsiedlung durch den Braunkohleabbau  im Süden von Leipzig, schön im sächsischen Dialekt, die manchmal ihre Längen hat, findet Ihr hier:
https://www.youtube.com/watch?v=bRy9BEDEnqQ
In guten Momenten wird die ostdeutsche Borniertheit gepaart mit Bräsigkeit und im Gegensatz dazu der Eigensinn der Menschen gezeigt. Die Allmacht des Staates, seine Willkür und seine sich hinter den allgemeinen Wahrheiten versteckenden ausführenden Organe sind mir eine immerkehrende Mahnung, nie so zu werden wie die.

Quatsch-Platsch, Pittiplatsch, sowie die Textzeile „…zufrieden, ruhig und glücklich!“ ist in der DDR Aufgewachsenen geläufig. Der Rest kann fragen.

Petite Cuisine, 13.08.61

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Vorbestellung per Mail bis 14.00 Uhr: [email protected]
Bestellung per Telefon am 17.00 – 20.00 Uhr: 069776400

Mo – Sa:
17.00 – 23.00 (bedingt durch Auflagen amorph)
So geschlossen
Im Gastraum dürfen seit 11. Juni max. 10x Gäste an einem Tisch sitzen,
wobei alle Tische zueinander 1,5 m Abstand haben müssen.
Von jedem Gast müssen Name, Anschrift und Telefonnummer notiert werden.
Reservierung-Anfragen sind möglich und seltener nötig.

Quatre Préludes ou
Wie spiele ich mit vier Stürmern oder
Wie schlage ich mir den Bauch voll und bin immer noch hungrig oder
Pommes sind aus!

3x Käse (Manchego, Comte, Gorgonzola)
Tomate gefüllt mit Frischkäse und Basilikumpesto
Aioli, Oliven und Kapern
Knobibrot

3x Wurst (Chorizo, Salami, Schinken)
Angemachte Bohnen mit Tomate, Basilikum und Knoblauch
Aioli, Oliven und Kapern
Knobibrot

2x Käse (Manchego, Comte)
2x Wurst (Chorizo, Schinken)
Aioli, Oliven und Kapern
Knobibrot

Garnelen in Salzbutter
Ei gefüllt mit Sardellenpaste
Aioli, Oliven und Kapern
Knobibrot

Alle Teller kosten einzeln in Ziffern, wie die Takttung der Linien der Straßenbahnen 301 und 302 in Gelsenkirchen.

Heute vor dreißig Jahren

Gesoffen wird immer nur die Getränke ändern sich
oder
2019 gibt es die Olsenbande bestenfalls im MDR
oder
Diese Saison wird RB Meister
oder
Heute vor dreißig Jahren

Ich war nie selbst betroffen von zu viel Alkohol. Wiederum konnte ich beobachten, wie zu viel Alkohol den Menschen verändert. Seit vielen Jahren gehen große Mengen regelmäßig durch meine Hände: Der Unschuldige mit den schmutzigen Händen? Die Frage nach der Moral bei meiner Tätigkeit stellt sich mir hin und wieder. Es soll ein Betriebsgeheimnis bleiben inwieweit ich die ethische einer rein kapitalistischen Maxime unterstelle. Einer meiner prägenden Erlebnisse in Leipzig mit Alkohol hatte ich anlässlich der Fußball-WM in Russland vor einiger Zeit bereits erzählt.

In Leipzig auf den Montagsdemos im Herbst vor exakt 30 Jahren -u.a. am 01.10.1989- wurde im Gegensatz zum sonstigen gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol darauf geachtet, dass Angetrunkene nicht auf dem innerstädtischen Ring mitliefen. Ich erinnere mich noch, wie einem Betrunkenen eindeutig, im Ton väterlich, im Singsang des sächsischen Dialekts nahe gelegt wurde, nach Hause zu gehen: „Du bisd besoffn! Mensch, geh’ heme! Das hier is’ nüscht für disch! Benn disch aus!“
Ähnlich wie bis heute in Russland wurde in der DDR gesoffen. Trunkenheit galt als Kavaliersdelikt. Führende Genossen bei uns und in der Sowjetunion und bis heute in Russland (rühmliche Ausnahme ist Putin) waren Alkoholiker. Zum Beispiel der DDR-Einheitsgewerkschaftsvorsitzende Harry Tisch, der Generalsekretär der KPDSU Leonid Breschnew – dessen Leben jetzt mit Gerard Depardieu verfilmt werden soll – und Boris Jelzin, der erste Präsident der GUS.
Als ich letztens in Leipzig wegen einer Kultur-Veranstaltung weilte, wandelte ich durch die Stadt.

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Die ganz alten Herden. Dass, die alle noch leben.

Ich entdeckte längst vergessene Bands, deren Schallplatten wieder im Schaufenster stehen. Ich sah auf der Straße einen der alten Sternchen und ließ es mir nicht nehmen, ein Foto von seinem Verglühen und von dem Album zu machen.

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Geile Scheibe: Heldenstadt Anders. Leipziger Underground 1981-1990.
Sternchen
Bald im Schwarzen Loch.

In der Innenstadt auf dem Sachsenplatz besuchte ich das Museum für Bildende Künste Leipzig,
um mir die Gemälde der so genannten Leipziger Schule bzw. Der Neuen Leipziger Schule
anzuschauen. Mir gefiel besonders Roland Borchers auf.
Frohes, wenigstens Heiteres und Buntes wurde auf den Bildern der diversen Leipziger Schulen nicht erzählt. Vielmehr fand ich die Farbe meiner Erinnerung von vor 1989 wieder: Grau.
Ich kann mich halt nicht von meiner Vergangenheit trennen.
Etwas „kälter“, wie ein Wodka aus Weißrussland, ordnet in Düsseldorf im Kunstpalast eine Ausstellung die Kunst in der DDR ein. Hier wird versucht sie unabhängiger von der ewig politischen Einflussnahme und ohne den emotionalen „eigenen“ Blick darzustellen.

Fenster in Halle
Henri Deparade, Fenster in Halle, 1988
Umbruch und Stille I
Uwe Pfeifer, Umbruch und Stille I, 1990

Vielleicht hätte ich bei einem nächtlichen Spaziergang durch die Innenstadt entlang der Demonstrationsrouten an den Montagen vor 30 Jahren in Opa-Manier über diese Ereignisse erzählen können. Die lautstarken Rufe im Herbst 1989, auf denen die Forderung der Ausreisewilligen „Wir wollen raus!“ plötzlich in ein „Wir bleiben hier!“ der Nicht-Ausreisewilligen überging. Und spätestens da muss den verantwortlichen Genossen nicht nur bei den Inneren Organen „der Arsch auf Grundeis gegangen sein“. Jahrelang wurde sinnbildlich gesprochen – falls nötig – Luft abgelassen. Regimekritiker wurden drangsaliert, eingesperrt, in den Westen abgeschoben oder dahin verkauft. Jetzt gab es eine wahrnehmbare Gruppe von Menschen, welche dem Land nicht den Rücken kehren wollten. Vielmehr sahen sie ihre Zukunft in der DDR, nur nicht mehr mit den verantwortlichen Genossen. Es war für mich ein beeindruckendes Erlebnis, wie tausende Menschen „Wir bleiben hier!“ riefen. Ich lief still daneben, hatte einen nicht bewilligten Ausreiseantrag für den Westen, hatte keine Reise-Papiere für Ungarn und hatte mit dem Land längst abgeschlossen. Bei allem Respekt vor den „Wir bleiben hier!“-Rufern sah ich meine Zukunft überall, nur nicht mehr in der DDR. Ich glaubte nicht mehr an Veränderungen bzw. an Reformen. Ich wollte kein Teil mehr davon sein. Im Gegensatz zu den heutigen Flüchtlingen lag mein Pass (durch die Nichtanerkennung der DDR durch die BRD) seit meiner Geburt bereits da. Ich musste nur irgendwie dahin kommen, was mir Anfang November 1989 schließlich gelang.
In der DDR wurde der Druck von Montag zu Montag immer größer. Im ganzen Land demonstrierten mehr und mehr Menschen. Die Bürgerrechtler brachten die Forderungen auf den Punkt. Gemeinsam mit diversen Kirchenleuten wiesen sie den Weg, ohne das immer größer werdende Machtvakuum, welches eine implodierende SED hinterließ, ausfüllen zu wollen. Innerhalb des Regimes wurden die Stimmen, welche in den „Dialog“ mit den Demonstranten treten wollten, wahrnehmbarer. Die befreundeten Genossen in der sowjetischen Botschaft in der Straße unter den Linden und im Hauptquartier der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland unterhalb Berlins in Wünsdorf stärkten die zaghaften Reformgenossen und hielten sich ansonsten raus. Und dann war es Zufall, ein wenig Kalkül und eine Möglichkeit, die man nicht ausschlägt, als Günter Schabowski (als defakto Regierungssprecher) seinen kleinen Zettel raus kramte und damit den Stein ins Rollen brachte.
Und das Kartenhaus DDR brach in sich zusammen. Das Angebot von Kanzler Kohl aus Bonn, ein wenig aus dem Bauch, aber mehr als geschickter Schachzug gedacht, vollzog die Einheit schneller als gedacht. Der vergangene Stadtschreiber von Bergen-Enkheim Clemens Meyer, den ich mir lesend in der Vowi nicht leisten wollte, schildert diese Zeit 1989/90 eindrucksvoll in seinem Roman „Als wir träumten“
Und das heute in Ostbrandenburg und Ostsachsen viele sich nicht aufgehoben fühlen, gerne an die Hand genommen werden wollen und mit der Welt da vor den Toren von Riesa, Wurzen und Döbeln nichts anfangen können, weil sie ihnen 30 Jahre nach der Wende immer noch fremd ist, nun aber die Welt zu ihnen kommt, verwirrt sie zunehmend. Im Zweifel ist man sich selbst am nächsten. Und wird als junger Mensch in Leipzig, weil man die verwirrenden Fußballanimositäten der beiden alten Leipziger Vereine nicht mehr buchstabieren kann, Fan einer Mannschaft, die auf Tradition und Vereinsstruktur pfeift. Geld ist genug da, ein Marketingkonzept auch und die Nachfrage bei Erfolg, selbst bei mäßigem Erfolg, garantiert. Weil es „…nich’s andres gibt hier’e!“ Und schon werden im sächselnden Tonfall die nichtdeutschen Spieler brav ausgesprochen und es wächst zusammen, was kapitalistisch als Gewinnmaximierung gedacht ist und damit auch zusammengehört.

Mehr West in Ost geht nicht
Mehr West (Skoda, RB-Wimpel) in Ost (Foto in Leipziger Ostvorstadt) geht nicht.

Der fromme Wunsch eines Wandspruches in Leipzig nach mehr Olsenbanden ist zwar schön, aber den Witz versteht bald niemand mehr.

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Und kommt später in die Vowi!

Montag Schontag

Wolfgang Hilbig

leipzig

wieder das kreuz im aufgang … im vorübergehen –
wofür sein finsteres feuer im traum –
verschattet drei pappeln die immer noch stehen
drei südlichen zypressen gleich im fensterraum
den brennend ich passiere
doch augenblicks verliere
wenn nacht mir in der stirne gärt
und trauer wüst und schrill das hirn zerfährt.
regenschauer schwarzer fledermäuse
im rauch aus ruß vor meines wahns asyl
flieht mir der genius aus dem schmerzgehäuse
hin an das kreuz das sich mir vor die pappeln schlägt:
das dieses fenster nur … sagt mir noch feingefühl –
bis mich sein waagerechter balken zitternd trägt.

aus Wolfgang Hilbig, Gedichte, Frankfurt am Main 2008, S.224

Gestern vor dreißig Jahren bin ich meiner Erinnerung nach nicht auf der Hermann-Liebman-Straße im Leipziger Osten gegangen. Manchmal kauften wird dort in der Schlange stehend sonntags Eis und heiße Kräppel. Leider konnten sie, wenn man zu spät kam, alle sein. „Sind aus!“, gab es schroff als Antwort, die schmerzte, wie Kartendresche in der Schule. Dann blieb nur das Wassereis. Ein kleiner, aber kein richtiger Trost.

1988, Leipziger Osten, Hermann-Liebmann-Straße., Foto V. Müller

Hermann-Liebmann-Straße im Leipziger Osten 1988

Trostlosigkeit, Verfall und die quietschende, um die Ecke biegende Straßenbahn. Damit verbinde ich die Hermann-Liebmann-Straße, große Teile von Leipzig und eigentlich die ganze DDR. Das zufällig im Netz gefundene Foto von 1988 gibt dies wieder. Die Kinderbibliothek war dort. Mein Zahnarzt gleich nebenan. Ein ungleiches Paar, was in meinen Träumen noch existiert. Entweder suche ich in endlosen Regalen nach Büchern, die ich unbedingt finden muss, oder man malträtiert meine noch kindlichen, aber schon durch Wassereis und Kreppel brüchig gewordene Zähne mit dem schlimmen großen Bohrer. Natürlich ohne Betäubung.

Ich weiß nicht mal mehr, ob ich bei der ersten Montagsdemo gestern vor dreißig Jahren dabei war. In der Innenstadt befand ich mich auf jeden Fall. Wir verkauften damals von vietnamesischen Vertragsarbeitern genähte Hemden (umgangssprachlich Fidschi-Hemden genannt), Alfkissen (wegen der populären Serie im Westfernsehen) sowie Gorbatschow- und Samantha Fox-Sticker (beide waren aus unterschiedlichen Gründen beliebt). Wir hatten einen genehmigten Stand, platziert auf zwei Tapeziertischen. Wir handelten im Auftrag von Jungs, die mit großen Geldbündeln in den Taschen Nischen gefunden hatten, selbständig zu wirtschaften. Gab es eine Nachfrage im Markt, konnte sie viel schneller als im staatlichen Rahmen befriedigt werden. Wieso der Staat dies duldete, weiß ich nicht. Vielleicht war es insgesamt zu unwichtig, vielleicht hatte einer gute Kontakte, vielleicht hatten wir einfach Glück, vielleicht wurde das staatliche System brüchiger und poröser und gab immer mehr Nischen frei.

Für Anfang November sollen die Wände der Vowi anlässlich des 30. Jahrestages der Montagsdemos, meines Ganges von hüben nach drüben und des Mauerfalls geschmückt werden. Dafür gibt es Altbekanntes „vom Gespenst aus der Mitropa“ und vielleicht bald Ergänzendes.

Es geht ein Gespenst in der Mitropa
1. und 2. Wandzeitung
3. Wandzeitung
4. Wandzeitung
5. Wandzeitung
6. Wandzeitung

6. Wandzeitung

„Es geht ein Gespenst um in der Mitropa…“
Große Teile -virtuell – einer kleinen persönliche Ausstellung 2003 in der Vowi über meine Jahre in Leipzig 1966-1989

6. Wandzeitung
Nachlaß

Es geht ein Gespenst um in der Mitropa
1. und 2. Wandzeitung
3. Wandzeitung
4. Wandzeitung
5. Wandzeitung