Kategorie: Schönheit

L’art pour l’art – die Kunst um der Kunst willen

Die Fotos sind fertig

Phantastisch, wie mein Gedicht wächst,
während ich selber schrumpfe.
Es wächst, nimmt meinen Platz ein.
Es verdrängt mich.
Es wirft mich aus dem Nest.
Das Gedicht ist fertig.

aus dem Gedicht „Morgenvögel“
von Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte, München 1997

Die Renovierungsarbeiten in der Vowi sind fast abgeschlossen. Der Rest wird in den nächsten Wochen erledigt.
Endlich gibt es an den Wänden wieder etwas zu sehen. Unser Haus- und Hoffotograf Sven Bratulic hat sein Archiv durchstöbert und daraus eine Reihe Bilder ausgewählt. Jedes Foto erzählt eine Geschichte. Denn ein interessantes Foto – ganz wie ein würdiges Gedicht – steht für sich allein. Der „Erfinder“ tritt zurück. Im Auge des Betrachters entwickelt das Foto einen Eigensinn, eine eigene Geschichte, ein eigenes Leben. Ganz so, wie es der schwedische Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer oben formuliert hat.

Sola fide in der Vowi

10.12.16
Matze, der Exwirt vom Dr. Flotte, dem größten Leuchtturm des Bockenheimer Bermuda-Kneipen-Dreiecks, kommt aus einem Dorf unweit von Zittau, welches gleich neben Görlitz liegt. Michael Ballack ist ebenfalls gebürtiger Görlitzer.

Ein Landsmann von Matze und Michael Ballack ist Jacob Böhme. Er war Schumacher, hatte Visionen und wurde schließlich Dichter oder besser Prophet.

Meine prophetische Vision ist, dass ich alkoholfreies Bier aus dem Keller holen muss, dabei heimlich über die Hintertür verschwinde, nicht wiederkomme und die Kneipe samt darin sitzender Gäste ihrem Schicksal überlasse.
Jacob Böhme hatte andere Visionen. Er glaubte, Gott zu sehen und gewann daraus einen mystischen Zugang zum Glauben, den er in lyrischen Ekstasen eines Dichters niederschrieb. Sie geben seinem Protestantismus eine mystische Tiefe, die ich höchstens in der Stille der Gebanntheit einer übervollen Kneipe beim Fußball erfahre. Oder unlängst, wenn alle Tische bei der Vowi-Cuisine schweigend den Hauptgang ergründen und man nur das Besteck klappern hört.

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=gIenwcT6_pM&w=560&h=315]

Hast Du aufgegessen?

09.12.16
Am Sonntag, den 11.12. um 14.00 Uhr läuft im Mal Seh’n Kino bei der liebenswürdigen Ariane in der Adlerflychtstraße 6 im Frankfurter Nordend der neue Doku-Film über den amerikanischen Komponisten Frank Zappa „Eat that question“.

Warum sollte man hingehen?
Weil die Eintracht bereits Freitag gespielt hat,
weil die Vowi erst 15.30 öffnet, 
weil es regnet,
weil Hölderlin unweit vom Mal Seh’n im Adlerflychthof seine Geliebte Diotima getroffen hat,
weil es nervt spazieren zu gehen,
weil Zappa im Monat Dezember 1940 geboren wurde und im gleichen Monat 1993 gestorben ist,
weil man in Zeiten des Haarersatzes das Behaarte andere Amerika intensiver würdigen will
oder weil man den Namen irgendwie kennt, aber die Labetasche hinterm Vowi-Tresen es als Bildungslücke beschrien hat, wenn man sich nicht intensiver mit Zappa befassen würde.

http://www.imdb.com/videoembed/vi1377809433

Spirituale Arbeit ist überall möglich

04.12.16
Der unlängst erwähnte amerikanische Präsidentschaftskandidat Frank Zappa war areligiös.

Allerdings läßt sich seine unentwegte Auseinandersetzung mit der Welt und seine Kommentare darüber, wenn überhaupt, fernöstlichen Religionen bzw. Philosophien zuordnen.
Zappa Antwort auf die Frage, warum er etwas tut, war gleichzeitig sein kreatives Motiv. Es lautet:
„Alles, zu jeder Zeit, an jedem Ort ohne jeglichen Grund.“
Um es kurz zu machen: Zappa hatte durchaus Interesse am Zen-Buddhismus. Und wir in der Vowi auch.
Eine stoisch-freundlicher Gleichmut läßt einem manches Bier leichter zapfen, den zum wiederholten Mal gehörten Witz oder die zum wiederholten Mal im Suff erzählte Geschichte leichter ertragen.

Wie es der Zufall will, war ein Gast der Kneipe während der Dreharbeiten über das Leben in einem japanischen Zen-Kloster, der jetzt als DVD zu haben ist, gerade dort. Mit seinen Erzählungen über die Schmerzen beim stundenlangen Meditieren, den spartanischen Lebensbedingungen und der sehr harten körperlichen Arbeit vor Ort, kontrastiert er das Strenge, Einfache und Klare der Bilder des Filmes. Die Musik zum Film hat der englische Jazzer Fred Frith komponiert.
Und Frank Zappa? Sein Zynismus machte ihn hypersensibel. 1968, die Hippiebewegung mit fernöstlichen Räucherstäbchen kam langsam im Mainstream an, nannte er eine Schallplatte „We‘ re only in it for the money“.

„Nichts ist, was ich (mir) wünsche.

Aber ich mach‘ jetzt zu!“

 

[vimeo 159289057 w=640 h=360]

 

Kleinöde

Gäste aus der Kneipe haben in Eigenregie ein Buch veröffentlicht:
Kleinöde. Ein Bildband zur Idee und Praxis städtischer Plätze in Frankfurt am Main.
Der lyrische Titel und der etwas sperrige Untertitel stehen meines Erachtens für einen sehr gelungenen Stadtführer, der höchsten Ansprüchen genügt – inhaltlich und ästhetisch. Mittels vielen Schwarz-Weiß-Fotografien werden in den dazugehörigen Beiträgen die Plätze lokalisiert, historisiert und beschrieben. Besondere Punkte innerhalb der Plätze, wie Kneipen, Läden usw. werden benannt und erklärt.
Für € 19,90 bekommt man ein außergewöhnliches Buch über Frankfurt. Darüberhinaus haben die Autoren ein witziges Quartett zum Buch erfunden, was man für € 7,- kaufen kann.
Beides gibt es in der Vowi, wenn es nicht ausverkauft ist.

„…Außenbordmotor ihrer Vagina.“

Hilary Mantel schreibt in erster Linie historische Romane. Dabei schafft sie es, historische Komplexität so darzustellen, dass dem Leser kein altbackenes, sondern ein frisch aus dem Ofen gezogenes Brot serviert wird.
Jetzt hat sie einen Band mit Erzählungen veröffentlicht. Eine lautet „Die Ermordung von Margaret Thatcher“. Bei Bayern 2 kann man sich diese Kurzgeschichte in der Mediathek anhören. Dafür wurde sie in Großbritannien angegriffen, wie sie sich so etwas nur ausdenken könnte:
Wie kann man einen Mord an der britischen Premierministern auch nur gedanklich durchspielen.

Ihr jungen Leute werdet es kaum noch wissen, aber Maggie Thatcher stand für vieles, was Pink Floyd melodramatisch und psychisch überzeichnet auf ihren Schallplatten/CDs (Animals, The Wall, The Final Cut) von Ende der 70er bis Ende der 80er des vorigen Jahrhunderts ausdrückten.
Weniger dramatisch, aber vielleicht treffender, spuckten Punks und ihre New Wave-Ausläufer auf all das, wofür sie stand:
Kalter, aggressiver, anonymer Kapitalismus nach innen und außen: Falkland-Konflikt mit Argentinien, Kalter Krieg mit den Staaten des Warschauer Vertrages, Schließung vieler bzw. fast aller Kohlengruben, starke Einschränkung bzw. Abbruch von Sozialprogrammen usw.

Hilary Mantel meint, dass sie ein Problem mit ihrer Weiblichkeit in einer ausschließlich von Männern geprägten Welt hatte. Zwar war sie eine Frau, doch ahmte sie einen Mann nach. Ihr blieb nur, neben dem uniformen Kostümen und ihrer Betonfriseur, die wiederum den Männern in ihren ewigen Anzügen und ihren aus der Stirn gekämmten Haaren glichen, ihre Handtasche als äußeres Merkmal der Weiblichkeit: „Thatcher schleuderte ihre Handtasche herum wie einen Außenbordmotor ihrer Vagina.“

Immer das Gleiche

Mittagszeit. Der große Mann stützt die Ellenbogen auf
den Tresen. Breite Schultern über einen starken Körper.
Eine Hand am Bierglas. Mit der anderen streicht er die
die Haare am Hinterkopf fest. Sie sind von den Ohren nach
hinten zur Mitte gekämmt und glänzen. Aus der Gesäßta-
sche der schwarzen Lederhose ragt eine Kammhälfte her-
aus. Am Nietengürtel hängt ein Schlüsselbund. Sich kurz-
seitig immer wieder abwendend, sieht er zu der anderen
Thekenseite hinüber. Dort sitzt ein schmächtiger junger
Mann. Die Haare kurz und frisch vom Frisör. Er tragt ei-
nen Anzug aus der Marckenecke im Kaufhaus. Mit wen-
igen Worten und seinem Lachen erreicht er die Frau hinter
dem Tresen. Die lacht ihn an. Mag sich nicht wegwenden.
Der Breitschultigre sieht jede ihrer Gesten. Wohltaten an
dem anderen. Schließlich wird der andere mit ei-
nem Kuß verabschiedet. Der Große sucht in der Lederhose
nach Geld, fragt kaum hörbar, zahlt. Dann zieht er im Ge-
hen seine Jeans-Jacke an. Auf dem Rücken ein mürrischer
Adler mit braungelb erstarrten Schwingen.

aus
Heinz Kattner
Als riefe jemand den eigenen Namen. Lyrische Prosa.
Springe 2007, S. 15

Volker Luley liest aus seinem Buch „Ajù Sardinien!“

Der Lehrer, Maler und Geschichten erzählende Volker Luley liest am Sonntag, den 19.Januar 2014 aus seinem neuen Buch „Ajù Sardinien!“, welches im Morlant-Verlag erschienen ist. Er hat seine Erlebnisse, die Begegnungen mit den ansässigen Bauern eines kleinen sardischen Tals in teils amüsanten, teils makabren Geschichten festgehalten, ist ein stückweit in die Tradition der Insel vorgedrungen, einer von Armut und Misstrauen gekennzeichneten Lebensweise, die jetzt allmählich mit einer neuen Generation verschwindet.

Die Lesung beginnt um 16 Uhr.
Mit Volker Luleys Geschichten aus dem Valdimela, rotem und weißem Wein des sardischen Weingutes Dettori, knusprigem pane carasau, regionaler Musik und Bildern soll die Insel Sardinien näher gebracht werden.

Hier findet ihr Volker Luleys aktuelle Homepage mit seinen Bildern.

Kalter Kaffee in Tiflis: Absurde Geschichten eines deutschen Gesandten

[flickr]set:72157636096542855[/flickr]

Am 08.10.13 erscheint das Buch unseres Gastes
Dustin Dehez
Kalter Kaffee in Tiflis: Absurde Geschichten eines deutschen Gesandten.

Bei einem HR-Interview neulich in der Vowi wurde Dustin, gut sichtbar auf dem dritten Foto (lesend aus seinem neuen Buch, umrahmt von anderen künstlerischen Schwergewichten, die häufiger die Vowi frequentieren), aufgenommen:
Links die Fotos vom neuen Amselmann-Film (den Machern von „Blutgericht in Ginnheim“), der hoffentlich bald seine Uraufführung in der Vowi erleben wird,
rechts in der Mitte das Plakat von Hannes‘ Comic-Strip-Buch „Das Kleine Schwarze“, was 2011 zur Buchmesse vorgestellt wurde, und
rechts oben eine Schallplatte der Copy Cats, einer der letzen großen Punkrockbands Frankfurts.

Dustin wird am Sonntag, den 03.11.13 sein Buch vorstellen. Bei Prominente Diskussionspartnern (u.a. der Kirchheimer Generalkonsul) wurde angefragt.
Sein Buch berichtet von seinen Erlebnissen als Politikberater und er erkennt -und hier gibt es Ähnlichkeiten mit der Welt des Bockenheimer Wirtes-, dass die Welt vor dem Tresen alle Ingredienzien eines Shakespeare-Dramas enthält, das man im besten Falle entwirren, aber kaum verstehen kann.
Die Memoiren des Wirtes würden dann lauten:
„Warmes Bier gibt’s auch hinterm Jordan: Absurde Geschichten eines Bockenheimer Wirtes“

Auf der Jordanstraße 1974

Auf der Seite Faustkultur fand ich ein Interview mit dem Schriftsteller Peter Kurzeck, wo er u.a. seinen ersten Besuch in der Jordanstraße schildert. Die darin vorkommende Kneipe „Narrenschiff“ befand sich gegenüber der „Volkswirtschaft“ in der Jordanstraße 15 (Ecke Kiesstraße) und ist heute eine Wohnung.

„… Ihre Romane spielen zum größten Teil in Bockenheim, in der Jordanstraße, wo die Karl Marx Buchhandlung steht, weil Sie dort zu der Zeit, von der Sie so ausufernd schreiben, gelebt haben. Meine Frage nun an Sie als Figur ihres eigenen Romans: Sie gehen immer durch die Jordanstraße, aber sie gehen nicht über den Jordan?

Eigentlich nicht, nein. Ich habe die Jordanstraße, lange bevor wir dahin zogen, kennen gelernt, und zwar im Zusammenhang mit diesen RAF-Geschichten in den 70er Jahren. Ich wollte damals für einen Freund, der bei einem RAF-Anwalt arbeitete, der also vielleicht auch in der RAF war, eine Fluchtadresse besorgen. Er war schon untergetaucht, hatte aber keine Fluchtadresse. Die Mitbewohner aus seiner ehemaligen WG waren auch als RAF-Sympathisanten bekannt. Ich habe also mit einem Freund zusammen versucht, für ihn eine Fluchtunterkunft zu organisieren, weil er von dort, wo er war, möglichst schnell weg musste. So habe ich also die Sybille kennen gelernt. Sie war damals 18, noch Schülerin und hat in einer leeren Fabrik am Stadtrand gewohnt. Während also alle anderen, auch die Leute, die man als großspurige RAF-Sympathisanten und Provinzrevolutionäre kannte, plötzlich alle keine Zeit hatten und sich herausredeten, dass sie selbst schon überwacht würden, und Ähnliches – und darauf natürlich auch noch stolz waren – hat Sybille das sofort gemacht. Wir haben also diesen Freund da hingebracht. Dann bin ich mit einem entfernten Bekannten nach Frankfurt gefahren, um ein paar Kontakte herzustellen. (Ich glaube, er wurde später an der Schweizer Grenze angeschossen.) Mit diesem eigentlich Unbekannten zusammen wollte ich herausfinden, ob in der Wohnung meines Freundes schon eine Hausdurchsuchung stattgefunden hatte, ob man ihn also schon suchte. Wir haben uns an der Jordanstraße getrennt, weil er noch jemanden allein treffen wollte. Man sollte ja auch nicht mehr mitbekommen, als man unbedingt wissen musste. Dann bin ich in der Jordanstraße in eine Kneipe, das „Narrenschiff”, gegangen, die es heute nicht mehr gibt. Wir hatten uns folgendermaßen verabredet: Er sagte: „Da vorne bei der Gräfstraße, wo die Jordanstraße aufhört, und es weiter zum Campus geht, da wollen wir uns in einem Café treffen“. Es war vielleicht acht oder auch etwas später. Ich habe also im „Narrenschiff“ gewartet und als ich wieder raus kam, inzwischen war es ganz dunkel und das Pflaster von der Jordanstraße glänzte, und diese schönen Fabrikhallen standen noch da, die so spukhaft aussahen, weil sie die Backsteine weiß angestrichen hatten, und daneben standen diese riesigen alten Häuser, die aussahen wie Prager Häuser und fast durchsichtig waren, weil der Verputz einfach völlig verblichen war; auf dieser damaligen Jordanstraße stand ich nun. Ich bin dann die Straße langsam hinaufgelaufen, zu dem Café und fühlte mich irgendwie verfolgt. Es hätte ja auch sein können – das war bei diesen Geschichten damals so –, dass man seit Tagen überwacht wird, und irgendwann nehmen sie einen fest oder legen einen um. Die haben damals Leute auf der Flucht erschossen, die sie nicht unbedingt hätten erschießen müssen. All das, diese Angst ging mir jedenfalls durch den Kopf, als ich die Jordanstraße hinaufging und merkte, wie ungeheuer sich die Wahrnehmungsfähigkeit steigert, wenn man denkt, das ist jetzt vielleicht dein letzter …, also wenn es nicht nur so eine Spiel ist. Sondern wenn man denkt: „Du gehst jetzt hier, als wäre das dein letzter Weg“. Und dann sieht man erst richtig, wie die Pflastersteine leuchten. Die hatten auch ganz andere Laternen in der Jordanstraße damals, um die Laternen herum war ein Lichthof wegen der Feuchtigkeit – das war auch Ende Oktober, 1974. Und ich hatte ja gerade durch diesen Freund die Sybille kennen gelernt. Ich habe also zu mir gesagt: „Geh langsam die Straße hoch und merke dir jeden Atemzug. Und wenn du lebend durchkommst und auch nicht festgenommen oder erschossen wirst, dann suchst du den Straßennamen und merkst ihn dir! Wenn du die ganze Situation überlebst, nicht nur den heutigen Abend, dann kommst du irgendwann hierher und weißt dann für immer wie die Straße heißt. Und dann gehst du einfach hier noch einmal entlang, und gehst dann völlig ungefährdet.“ Und dann kam ich vorne hin und das stand: „Jordanstraße.“

Das aktuelle Buch von Peter Kurzeck heißt Vorabend und ist beim Stroemfeld-Verlag erschienen.