2006, 2010, 2014, 2018, 2022

2006, Von mir hat die Fifa nichts bekommen
2010, Schluß m. Romantik
2014, 1. Vowi-Cuisine
2018, Russisches Alphabet
2022, WM-Kater

Nachdem mein persönlicher Referent die letzten Interviews, u.a. zur Steuerbefreiung bei Pfefferallergie, noch einmal durchgegangen war, fiel ihm auf, dass es bei einer der letzten Befragung auf einem unwichtigen Online-Portal den Versuch gegeben hat, mir zu unterstellen, dass ich nicht konsequent genug in den letzten Jahren, sprich letzten Jahrzehnten, meine Haltung gegenüber der FIFA zum Ausdruck gebracht hätte.
Rhetorisch gefragt, unterstellte man mir, erst jetzt, wenn die „Herde“ groß genug ist, mitzulaufen, sich beispielsweise populistisch auf Boykottseiten einzutragen, und nicht schon 2018 zur WM in Russland oder bei der Vergabe an Katar 2010 laut zu warnen oder wenigstens verbal öffentlich aufgezuckt zu haben.
Ich ging also meine unzähligen Listen mit Interviews, die thematisch und nach Jahren geordnet sind, durch:

Was von Interviews in Küchen übrig bleibt.


Ich suchte buchstäblich in der Vergangenheit unten und hinten im Keller in alten Kartons das „Gelaufene“ und fand, nachdem ich jahrelang achtlos darüber hinweg gesehen hatte, folgende Fotos:

Ich wußte immer, dass er damals, später nannte man jene Zeitspanne „Märchensommer“, hier war. Ich finde kein Foto, wo er eindeutig zu sehen ist. Aber er muss es ein. C… J… dos Santos Aveiro.
Unauffällig von Bodyguards umgeben, scheinbar zur Entourage der argentinischen Fans mit ihren merkwürdig deutsch-mennoitisch klingenden Vornamen wie Andi oder Rudolf gehörend.
Die Argentinier faselten ständig, wenn es nicht um Fußball ging, über ein Import/Export-Geschäft mit dem Titel „Begonien from Argentina“:

Rotwein mit Fahrrad

Ich lehne dankend ab. Als junger Küchengehilfe, der noch nicht an die große Küche dachte, machte ich damals erste Erfahrungen in der Vowi. Mein Chef, den alle nur General nannten, veranstaltete regelmäßig Abende mit einem Menü. Dabei erwischte er mich einmal, obwohl -fast- immer in der Küche vor acht Flammen stehend, wie ich für 15 Sekunden meinen Platz hinter dem Tresen verlassen hatte, um pflichtschuldig schmutziges Geschirr wegzubringen. Innerhalb der acht Stunden unserer gemeinsamen Arbeit war ich für Sekunden nicht auf meinem Platz. Genau in diesen wenigen Sekunden verließ er seine acht Flammen in der Küche und fand weder mich noch eine meiner Kolleginnen. Zum Rapport bestellt, dass ich nicht irgendwas irgendwo tun sollte, sondern immer dort hinter dem Tresen oder unterwegs im Gastraum als eine Art Leuchtturm meine Aufmerksamkeit im Gastraum im Winkel von 360 Grad bewegen sollte, denn deine Aufmerksamkeit muss immer, wie bei einem Leuchtturm, auf das Meer, auf deine Gäste gerichtet sein. Jemand könnte Hilfe benötigen und braucht dich. Vielmehr belass deine Gäste mit dem sicheren Gefühl, dass du jederzeit ihnen deine Aufmerksamkeit zuteil werden lässt. Ich rede mich nicht raus, ich wusste, dass er recht hatte. Er war immer im Recht als General. Er überlegte sich die Strategie und später die Taktik in der Küche. Ich ahne vieles von dem, was er sagte. Konnte aber beim besten Willen nicht mithalten. Dazu hatte ich zu viel Banales zu tun, wie Schlachtpläne zeichnen, Besteck-Formationen in Servietten geben und Öffentlichkeitsarbeit. Er lieferte die Schlacht und ich legte im übertragenen Sinne die Schürzen der Jäger dafür zusammen.
C… J… dos Santos Aveiro hatte vom General gehört. Auf einer Insel geboren mitten im Land, umsegelt er die Heimat des Generals. C… J… dos Santos Aveiro wußte, dass der Heimatverein des Generals bereits acht mal französischer Meister geworden war. Mit ihm könnte er etwas gestalten, denn die kulinarischen Ereignisse jagen ihn, nicht er sie.
Vorerst verhandelte C… J… dos Santos Aveiro mit meinem damaligen Chef über T-Shirts anlässlich der WM in Deutschland, die der FIFA nicht wohl gesonnen war. Fairtrade aus Biobaumwolle in Portugal genäht. In der Mitte von Portugal mit EU-Mitteln finanziert, steht seine Manufaktur. 1 A Qualität. Sie einigten sich. Ganz selten nach über 15 Jahren sehe ich sie noch an greisenhaften Gestalten, die damals im Laden aus- und ein gingen. Die Wölbung des T-Shirts am Bauch verrät die alte Leidenschaft.




Jahre später wieder zu einem Fußball-Großereignis, diesmal in Südafrika, ich war vom Gehilfen zum Kellermeister aufgestiegen, schlug C… J… dos Santos Aveiro ein neues T-Shirt-Projekt vor.
Unter Bezugnahme auf das Deutsche Romantik-Museum, welches in Frankfurt erbaut werden sollte und seiner Lieblingsband „Element of Crime“, obwohl er damals nur radebrechend Deutsch sprach, sollte das Motto „Schluß mit Romantik!“ auf die T-Shirts bedruckt werden.
Mein Chef lehnte ab. Über viele Witze konnte er nicht lachen.

Mein Chef, der Papier nur auf der Toilette benutze, beschäftigte sich längst mit der Zukunft, sprich mit den nächsten drei WMs. Darüber gibt es keine Aufzeichnungen. Nur seine einmalige Beichte, nach zwei, drei Kannen Kamille-Minztee, er trank höchst selten Alkohol, nachmittags am 13. Juli 2014.
Zukunft später: Ein junger vermeintlicher Superstar, der wusste, dass er später am Tag auf dem Gipfel seiner Karriere gelangen und es spätestens danach bergab gehen wird, beschließt in acht Jahren zur Eintracht zu wechseln, um zu beweisen, dass sein Denkmal nicht im Schneegestöber verblasst wie die Hand Gottes.
Zukunft eher bald und danach: Die WM in Russland bedarf eines Kommentars. Die WM in Katar muss ignoriert werden.
Leitung, Ansprechpartner, Mittelpunkt, Trendsetter, Jubelposenvorgeber, Torschütze, Elfmeterschütze bei Bedarf, Drama-Queen von 2006, 2010, 2014, 2018 bis 2022 war immer eine Person: C… J… dos Santos Aveiro.
Zuerst redete er mit dem jungen vermeintlichen Superstar. Ihm schlug er vor, täglich ein Stückchen von einem Frankfurter Bäcker, dessen Begründer, ein Österreicher mit Alkoholproblem, nach Frankfurt gezogen war, zu essen. Der alte Bäcker Kronberger war allergisch gegen den Geruch von weißem Pfeffer. Deshalb flüchtete er vor dem Grünen Veltliner seiner Heimat zum Apfelwein nach Frankfurt. Zurück zum jungen vermeintlichen Superstar. Die aus der Stückchen-Manie resultierende „Stoffwechsel-Erkrankung“ würde so lange dauern, bis er über diverse Umwege zur Eintracht gelangt. Was scheinbar keinen Sinn, weder für den Leser noch für den jungen vermeintlichen Superstar ergibt, war also geplant.
Dann lernte C… J… dos Santos Aveiro Russisch. Anhand des russischen Alphabets erfuhr er Begriffe, Persönlichkeiten, Geschichte dieses Landes.
Mir sagte er sinngemäß, dass er keinen Respekt vor jemand hat, der keinen Respekt vor ihm hat: „…Wenn du keinen Respekt vor mir hast, werde ich nie Respekt vor dir haben.“ Was er damit meinte, verstand ich im Februar 2022.
Anläßlich der WM in Katar sah ich ihn nur kurz. Er hatte viel zu tun. Versprichst du mir nicht, nach Al-Nassr FC in Saudi Arabien zu wechseln, fragte ich. Dabei sah ich ihn in seine Augen und mir fielen zum ersten mal seine schönen gezupften Augenbraunen auf. Er erwiderte, dass er fünf mal aller vier Jahre dabei war, er mir geholfen hatte, den jungen vermeintlichen Superstar zur Eintracht zu holen, die WM in Russland kritisch begleitet hat und die WM vier Jahre später anstatt a r mit e r buchstabiert zu haben. Er bräuchte noch Geld für seine Stiftungen und weitere Denkmäler. Da müsse er sehen, wo er bliebe. Außerdem macht er jetzt in Kunst. Back:Kunst:

Back:Koralle.

Irgendwie konnte ich ihn verstehen. Ich würde ebenso irgendwann gehen. Ich hatte dazu noch mehr WMs mitgebracht. Aber dort wo er spielt, spiele ich ganz sicher nie.

Ach, was für Zeiten.