Zeit

20 Jahre voll mit Geschichten aus der Volkswirtschaft
Nr. 11: Zeit

„Hallo Vera, ich würde noch einen Kleinen Apfelwein nehmen und vielleicht könnte ich ein Gedicht vortragen.“

In allen hier geschriebenen Geschichten versuche ich die Zeit festzuhalten. Sie soll nicht verloren gehen. Damit meine ich nicht die Patina einer Eckkneipe.

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1999. Rechts neben dem Eingang.

Im übertragenen Sinn wird starr auf die Vergangenheit geschaut: Es war so, es ist so, es wird immer so sein. Der Welt in ihren Teilen ganz nah zu sein ermöglicht die erzählte Zeit. Wenn sie in Wörter gesetzt, einfühlsam Abstand haltend und dabei nichts außer acht lassend erzählt wird.
Einfacher ausgedrückt, bedeutet dies, dass Geschichten erzählt werden, um sich zu erinnern.
Vermittelt durch unseren Gast Alexander las der Autor Peter Kurzeck 2009 in der Kneipe. Zuerst erzählte Peter Kurzeck in seinem leisen nordhessischen Dialekt, über das Leben in der Jordanstraße aus dem Gedächtnis. Was wie eine nette Plauderei klingt, wird zu einem stetigen Strom der Erinnerung. Später las er aus seinem neusten Roman „Oktober oder wer wir selbst sind“.

Kurzeck über seinen ersten Gang auf der Jordanstraße:
„Ich habe die Jordanstraße, lange bevor wir dahin zogen, kennen gelernt, und zwar im Zusammenhang mit diesen RAF-Geschichten in den 70er Jahren…
Wir haben uns an der Jordanstraße getrennt…Dann bin ich in der Jordanstraße in eine Kneipe, das „Narrenschiff”, gegangen, die es heute nicht mehr gibt. Wir hatten uns folgendermaßen verabredet: Er sagte: „Da vorne bei der Gräfstraße, wo die Jordanstraße aufhört, und es weiter zum Campus geht, da wollen wir uns in einem Café treffen“. Es war vielleicht acht oder auch etwas später. Ich habe also im „Narrenschiff“ gewartet und als ich wieder raus kam, inzwischen war es ganz dunkel und das Pflaster von der Jordanstraße glänzte, und diese schönen Fabrikhallen standen noch da, die so spukhaft aussahen, weil sie die Backsteine weiß angestrichen hatten, und daneben standen diese riesigen alten Häuser, die aussahen wie Prager Häuser und fast durchsichtig waren, weil der Verputz einfach völlig verblichen war; auf dieser damaligen Jordanstraße stand ich nun. Ich bin dann die Straße langsam hinaufgelaufen, zu dem Café…als ich die Jordanstraße hinaufging und merkte, wie ungeheuer sich die Wahrnehmungsfähigkeit steigert, wenn man denkt, das ist jetzt vielleicht dein letzter …, also wenn es nicht nur so eine Spiel ist. Sondern wenn man denkt: „Du gehst jetzt hier, als wäre das dein letzter Weg“. Und dann sieht man erst richtig, wie die Pflastersteine leuchten. Die hatten auch ganz andere Laternen in der Jordanstraße damals, um die Laternen herum war ein Lichthof wegen der Feuchtigkeit – das war auch Ende Oktober, 1974.“
aus:
http://faustkultur.de/175-0-Gespraech-mit-Peter-Kurzeck.html#.WHXYILGX-Rs

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2009. Handzettel zur Lesung von Peter Kurzeck

Der Autor hat Anfang der 80er auf der Jordanstraße gewohnt und erzählt, wie er seine Tochter von zu Hause in den Kinderladen ins Westend bringt. Dabei vergegenwärtigt er vieles, was man als Besucher der Kneipe kennt. In seinem am Anfang ungewöhnlichen Duktus, der es schafft einfühlsam Abstand zu halten und dem dabei kaum etwas entgeht, sieht man die Welt in ihren Partikeln hier ganz nah. Eine literarische Leistung, die man nicht hoch genug einschätzen kann. Für mich war die Lesung von Peter Kurzeck der kulturelle Höhepunkt in der Volkswirtschaft in den letzten 20 Jahren – ach was sage ich – in über 100 Jahren einer Wirtschaft hier in der Jordanstraße 13.

Hier geklickt, geht die Lesung in einem neuen Fenster auf der Jordanstraße bei 15.09 min los:

„Könnte ich noch ein paar Salzstangen bekommen?“