Staubiges Phantom

Letzte Woche besuchte ich die Stadtbibliothek und wurde plötzlich angesprochen. Ein großer, in seinen Bewegungen statisch wirkender Mensch, rief mich bei meinem Vornamen. Sein jungenhaftes Äußeres ging mit einem seltsamen Flackern seiner Augen einher, das man von alten Leuten kennt. Seine hohe Stimme wurde umformt von einem schnarrenden und gleichzeitigen gebrechlichen Ton.
Ich kannte ihn nicht und glaubte zunächst an eine Verwechslung. Schließlich nannte er sogar meinen Nachnamen und schilderte einen Vorfall, der vor sechzehn Jahren zurücklag und ihn seitdem begleitet, vielmehr in ihm gebohrt haben muss. Im Nachhinein glaube ich, dass er mich schon öfters in der Stadtbibliothek gesehen hat und erst nach einer Weile den Mut fand, mich anzusprechen. Ich hätte ihn damals, er und ich waren Geschichtsstudenten der Frankfurter Uni, vor einigen Kommolitonen -also öffentlich- diskreditiert. Obwohl ich nicht mit ihm direkt eine Veranstaltung am Historischen Seminar besucht und somit seine Äußerungen nur über Dritte mitbekommen hätte, mokierte ich mich über ihn bzw. über seine Äußerungen im dieser Veranstaltung. Dies hätte ihn sehr gestört. Damals wollte er nichts dazu sagen, aber jetzt könne er mir dies endlich mitteilen.
Ich konnte mich nur höchst schattenhaft an ihn erinnern. An etwas anderes nicht. Mein Exkommolitone schnarrte mir mit seinem hohen Tonfall die Geschichte. Mir blieb alles fremd. Sollte ich damals zu frech, möglicherweise zu arrogant gewesen sein? Ich gab an, dass mir möglicherweise die langweiligen, staubtrockenen und überlangen Vorträge vieler Studenten auf den Geist gegangen sind. Und wenn er, auch wenn es mir über Dritte zugetragen wurde, nach meiner Meinung zu dieser Kategorie von „Langweilern“ gehörte, dann habe ich bis heute kein Problem, ihm dies direkt ins Gesicht zu sagen. Mein Gegenüber schluckte ein wenig, aber er wirkte dennoch stolz auf sich und schien gar nicht auf eine Entschuldigung meinerseits zu hoffen. Er hatte es mir endlich gesagt. Seine Sätze spiegelten sich wie ein geflüstertes Echo, indem er bestimmte Wörter ganz leise murmelnd, wie in der Kirche, wiederholte. Ich konnte es natürlich nicht lassen ihn danach zu fragen. Er überlege laut bzw. würde sich die Wichtigkeit seiner Aussagen wiederholen, war die Antwort.
Ich muss dann mal gehen, beendete ich die Geisterstunde. Er knarrte nach sechzehn Jahren zum Abschied.