Auf dem Foto ist der Elster-Saale-Kanal zu sehen.
Er fängt im Westen von Leipzig an und endet in einem sanften Rundbogen weiter westlich in Sachsen-Anhalt. Seine Geschichte interessiert hier nicht. Das von uns „Kanal“ genannte flussartige Gewässer ohne Quelle und Mündung war im Sommer ein beliebter Ausflugsort. Wir fuhren mit dem Rad dorthin zum Baden. Leipzig ist in der Fläche recht groß. Auch, wenn der „Kanal“ in der Stadt anfängt, brauchten wir einige Zeit, um am Kanal weiterzuradeln und eine freie Stelle zu finden, wo wir uns niederließen und wo es jeder und jedem selbst überlassen war, ob sie mit Bikini und er mit Badehose oder besser ohne badete. Natürlich gingen wir als Jugendliche nackt ins Wasser. Das war für uns selbstverständlich, weil für uns Nacktheit kein Grund zur Scham sein durfte. Warum sollten wir uns vor uns selbst verstecken? Warum sollten wir in unserer gelebten (DDR-) Wirklichkeit genauso verklemmt und auf der anderen Seite so steril, wie in der Öffentlichkeit postuliert, damit umgehen.
Wie überhaupt ein Großteil unseres Lebens in der DDR und den ehemaligen sozialistischen Staaten darin bestand, die gesetzten Strukturen zu umgehen.Die Nacktheit von damals habe ich jetzt wieder entdeckt in den Collagen des ukrainischen Fotografen Roman Pyatkova.
Die Darstellung der damaligen Nacktheit habe ich an Frisuren, Schambehaarung und den Posen der Personen wiedererkannt. Keine und keiner kam damals auf die Idee, sich unter den Achseln und in der Scham zu rasieren. Heute ist es andersherum. Als Frau muss man besonders selbstbewusst oder mindestens älter sein, um sich wenigstens nicht unter den Armen zu rasieren.Aber Körperbehaarung oder die Begriffe, für was da umhaart wird, sind der Mode unterworfen. Puller und Pullu sagt auch keiner mehr.Die Posen sind es, die mir die Erinnerung zurückbringen.Sich nackt fotografieren zu lassen, setzt Erfahrung voraus oder Selbstbewusstsein. Ich tippe auf Selbstbewusstsein, den tagtäglichen sozialistischen Alltag zu umgehen. Konfrontation, brutale Gegenwehr führte zu drakonischen Strafen des Staates. Im Privaten oder öffentlich unter dem Mantel vermeintlich sozialistischer Pflichten lernte man zurechtzukommen. Immer dabei, sich selbst ein Stück freie Entscheidung zu bewahren. Seine Seele nicht vollständig zu verkaufen. Eigensinn, Verschrobenheit, Spitznamen für alle. Der Wirklichkeit etwas entgegenzusetzen. Empfindsam zu bleiben für jeden Hauch. Ob es der Duft der Freiheit, die Unbeschwertheit der Jugend oder nur der Mundgeruch des Nachbarn war, müsste ich nachlesen.
Diese merkwürdige Mischung zwischen Eigensinn und Parteivorgabe umgeben von Wissenschaftsgläubigkeit und Kriegserlebnis spiegelt der DEFA-Film Beschreibung eines Sommer mit Manfred Krug von 1962 wieder. Alles ist ganz einfach, auch wenn du etwas falsch machst, wird dich die Partei wie ein guter Vater zur Verantwortung ziehen, dich aber immer in seine Arme nehmen. Seine Liebe entzieht er dir dann, wenn du nicht mehr weißt, was du lieben sollst. Doch was für ein Mensch kannst du sein, der dies nicht mehr weiß. Und ganz sicher lässt du dich nicht nackt fotografieren.