Auf der Seite Faustkultur fand ich ein Interview mit dem Schriftsteller Peter Kurzeck, wo er u.a. seinen ersten Besuch in der Jordanstraße schildert. Die darin vorkommende Kneipe „Narrenschiff“ befand sich gegenüber der „Volkswirtschaft“ in der Jordanstraße 15 (Ecke Kiesstraße) und ist heute eine Wohnung.
„… Ihre Romane spielen zum größten Teil in Bockenheim, in der Jordanstraße, wo die Karl Marx Buchhandlung steht, weil Sie dort zu der Zeit, von der Sie so ausufernd schreiben, gelebt haben. Meine Frage nun an Sie als Figur ihres eigenen Romans: Sie gehen immer durch die Jordanstraße, aber sie gehen nicht über den Jordan?
Eigentlich nicht, nein. Ich habe die Jordanstraße, lange bevor wir dahin zogen, kennen gelernt, und zwar im Zusammenhang mit diesen RAF-Geschichten in den 70er Jahren. Ich wollte damals für einen Freund, der bei einem RAF-Anwalt arbeitete, der also vielleicht auch in der RAF war, eine Fluchtadresse besorgen. Er war schon untergetaucht, hatte aber keine Fluchtadresse. Die Mitbewohner aus seiner ehemaligen WG waren auch als RAF-Sympathisanten bekannt. Ich habe also mit einem Freund zusammen versucht, für ihn eine Fluchtunterkunft zu organisieren, weil er von dort, wo er war, möglichst schnell weg musste. So habe ich also die Sybille kennen gelernt. Sie war damals 18, noch Schülerin und hat in einer leeren Fabrik am Stadtrand gewohnt. Während also alle anderen, auch die Leute, die man als großspurige RAF-Sympathisanten und Provinzrevolutionäre kannte, plötzlich alle keine Zeit hatten und sich herausredeten, dass sie selbst schon überwacht würden, und Ähnliches – und darauf natürlich auch noch stolz waren – hat Sybille das sofort gemacht. Wir haben also diesen Freund da hingebracht. Dann bin ich mit einem entfernten Bekannten nach Frankfurt gefahren, um ein paar Kontakte herzustellen. (Ich glaube, er wurde später an der Schweizer Grenze angeschossen.) Mit diesem eigentlich Unbekannten zusammen wollte ich herausfinden, ob in der Wohnung meines Freundes schon eine Hausdurchsuchung stattgefunden hatte, ob man ihn also schon suchte. Wir haben uns an der Jordanstraße getrennt, weil er noch jemanden allein treffen wollte. Man sollte ja auch nicht mehr mitbekommen, als man unbedingt wissen musste. Dann bin ich in der Jordanstraße in eine Kneipe, das „Narrenschiff”, gegangen, die es heute nicht mehr gibt. Wir hatten uns folgendermaßen verabredet: Er sagte: „Da vorne bei der Gräfstraße, wo die Jordanstraße aufhört, und es weiter zum Campus geht, da wollen wir uns in einem Café treffen“. Es war vielleicht acht oder auch etwas später. Ich habe also im „Narrenschiff“ gewartet und als ich wieder raus kam, inzwischen war es ganz dunkel und das Pflaster von der Jordanstraße glänzte, und diese schönen Fabrikhallen standen noch da, die so spukhaft aussahen, weil sie die Backsteine weiß angestrichen hatten, und daneben standen diese riesigen alten Häuser, die aussahen wie Prager Häuser und fast durchsichtig waren, weil der Verputz einfach völlig verblichen war; auf dieser damaligen Jordanstraße stand ich nun. Ich bin dann die Straße langsam hinaufgelaufen, zu dem Café und fühlte mich irgendwie verfolgt. Es hätte ja auch sein können – das war bei diesen Geschichten damals so –, dass man seit Tagen überwacht wird, und irgendwann nehmen sie einen fest oder legen einen um. Die haben damals Leute auf der Flucht erschossen, die sie nicht unbedingt hätten erschießen müssen. All das, diese Angst ging mir jedenfalls durch den Kopf, als ich die Jordanstraße hinaufging und merkte, wie ungeheuer sich die Wahrnehmungsfähigkeit steigert, wenn man denkt, das ist jetzt vielleicht dein letzter …, also wenn es nicht nur so eine Spiel ist. Sondern wenn man denkt: „Du gehst jetzt hier, als wäre das dein letzter Weg“. Und dann sieht man erst richtig, wie die Pflastersteine leuchten. Die hatten auch ganz andere Laternen in der Jordanstraße damals, um die Laternen herum war ein Lichthof wegen der Feuchtigkeit – das war auch Ende Oktober, 1974. Und ich hatte ja gerade durch diesen Freund die Sybille kennen gelernt. Ich habe also zu mir gesagt: „Geh langsam die Straße hoch und merke dir jeden Atemzug. Und wenn du lebend durchkommst und auch nicht festgenommen oder erschossen wirst, dann suchst du den Straßennamen und merkst ihn dir! Wenn du die ganze Situation überlebst, nicht nur den heutigen Abend, dann kommst du irgendwann hierher und weißt dann für immer wie die Straße heißt. Und dann gehst du einfach hier noch einmal entlang, und gehst dann völlig ungefährdet.“ Und dann kam ich vorne hin und das stand: „Jordanstraße.““
Das aktuelle Buch von Peter Kurzeck heißt Vorabend und ist beim Stroemfeld-Verlag erschienen.