Dienstag, 16.05.23, 11.25 Uhr
Kategorie: 20. Geburtstag 2017
20 Geschichten aus 20 Jahren und mehr
Stolpern auf der Jordanstraße 13
Am 16. Mai, 11.25 Uhr werden in der Jordanstraße 13 drei Stolpersteine offiziell enthüllt.
Sie sind bereits verlegt.
Diese erinnern an die Familie Reinheimer, die in der 1. Etage gewohnt haben:
Karl Reinheimer
Geburtsdatum : 4.11.1876
Deportation : 22.11.1941 Kowno/Kaunas
Todesdatum : 25.11.1941
Sofie Reinheimer, geb. Stern
Geburtsdatum : 9.10.1878
Deportation : 22.11.1941 Kowno/Kaunas
Todesdatum : 25.11.1941
Erna Reinheimer
Geburtsdatum : 1905
Todesdatum : 22.3.1939
Die Steine zeugen für drei Menschen, die hier gewohnt und gearbeitet haben, wo sich heute die „Volkswirtschaft“ befindet. Die Steine mahnen und klagen die Enteignung, Verfolgung, Deportation und Ermordung von Karl und Sofie Reinheimer ins besetzte Litauen 1941 an.
Die Familie wohnte (1. Etage) und arbeitete (Erdgeschoss, eigene Metzgerei, neben der Restauration Ungeheuer, deren männliche Nachfolge -Ururenkel-, ich das Foto der Schankwirtschaft von 1915 verdanke) in der Jordanstraße 13.
Also genau am gleichen Ort über 70 Jahre später, wo heute immer noch ein Kneipe existiert, als verlängertes Wohnzimmer dient, wo getrunken, gegessen, geredet, gefeiert, gestritten, sprich gemeinsam Zeit verbracht wird. Wir können uns heute hier zu Hause fühlen, genauso, wie sich die Familie Reinheimer in diesem Haus zu Hause gefühlt hat, nehme ich an. Wissen tue ich nur, dass ihnen ihr Zuhause, ihre Metzgerei, ihr eigenes Haus und schließlich ihr Leben genommen wurde. Erst vom Staat ausgeraubt, legitimiert durch rassistische Gesetze und umgesetzt vom Finanzamt, und wenige Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion, von der alten Großmarkthalle in Frankfurt in das eroberte Litauen deportiert, um dort von Einsatzgruppen der SS mit Hunderten anderen erschossen zu werden.
Die Schuldigen für diesen Raub und Mord an einer jüdischen Familie aus der Jordanstraße sind mutmaßlich bekannt. Manche wurden benannt, manche mussten ihre Taten vor Gericht verantworten, manche wurden verurteilt.
Die Verantwortung für diese Taten kann durch keine höhe Gewalt oder eine Art Befehlsnotstand gerechtfertigt werden.
Die gesellschaftliche Struktur für solch ein Tat, Holocaust genannt, existierte in Deutschland vielleicht lange vor dem 1. Weltkrieg, vielleicht seit 1870/71 mit der Gründung des Kaiserreiches. Ein weites Feld. Nicht einfach in Begriffe zu bringen, dennoch eingrenzbar. Aber nicht an dieser Stelle.
„Mehr Demokratie wagen“ war Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg die Losung eines sozialdemokratischen Kanzlers. Sie war mutig und brachte unter anderem den wirklichen Beginn der Aufarbeitung der Zeit 1933-45 mit sich. Fernsehserien zum Thema halfen, die Wissenschaften forschten und schalteten das Licht in einer verschlossen Kammer an, und langsam wurde die Vergangenheit sichtbar, weil das Schweigen nicht hielt, weil die Beweise für Schuld und Verantwortung nicht mehr zu leugnen waren.
Wir, heute hier, sind ohne Schuld, aber in Verantwortung. Sie mahnt, die Geschichte des Holocaust (Fakten, wie Schicksale) zu buchstabieren, sowie die Erinnerung daran, als Gewissen zu verstehen, nicht zu vergessen.
Das Leben von Sofie und Karl Reinheimer, ihre Tochter Erna starb aus unbekannten Gründen 1939, wurde 1941 genommen. Sie lebten, vor über 70 Jahren, in Frankfurt, im Stadtteil Bockenheim, in der Jordanstraße 13,
genau hier.
Die Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main brachte folgendes über die Familie Reinheimer ans Tageslicht.
Vielen Dank an Martin Dill für die Vorab-Informationen!
Eine App verschafft digitalen Zugang zu allen Stolpersteinen in Deutschland:
Karl Reinheimer wurde in Beerfelden geboren und war mit der in Niederohmen geborenen Sofie, geb. Stern, verheiratet. Ab 1904 ist er als Metzger in der Jordanstraße verzeichnet, zunächst in Hausnummer 30. Etwa im selben Jahr kaufte er von der Witwe Stamm das Eckhaus zur Kiesstraße (damals Jordanstraße 47) und eröffnete neben der Gaststätte Ungeheuer im Erdgeschoss seine Metzgerei. Ab Adressbuch 1920 trägt das Haus die Hausnummer 13. Neben den Eheleuten arbeitete in der Metzgerei auch noch ein Geselle. Das Ehepaar lebte in der Wohnung im ersten Stock.
Karl und Sofie Reinheimer hatten zwei Kinder: Den Sohn Max, der am 27. Mai.1903 geboren wurde und dessen späterer Beruf mit Redakteur angegeben wird und die Tochter Erna, die bereits 1939 unter nicht näher bekannten Umständen im Jüdischen Krankenhaus in der Gagernstraße 36 verstarb.
Am 31. März.1938 musste Karl Reinheimer sein Geschäft als Folge der antisemitischen Verfolgung und Boykotte aufgeben. Die steuerliche Abmeldung erfolgte zum 21. Mai 1938. Laut Entschädigungsakte widersetzte sich Karl Reinheimer bis zu seiner Deportation dem Druck zum Verkauf des Hauses. Eine Sicherungshypothek in Höhe von 16.350 Reichsmark zu Gunsten des Reiches für eine eventuell anfallende Reichsfluchtsteuer wurde eingetragen. Außerdem musste eine „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von rund 20.000 Reichsmark für die Eheleute und mindesten 900 Reichsmark für die verstorbene Tochter entrichtet werden.
Das Ehepaar Reinheimer wurde bei der dritten großen Deportation aus Frankfurt laut Deportationsliste nach Riga verschleppt, das bislang irrtümlich als Sterbeort galt und deshalb auch auf dem Namensfries der Gedenkstätte Neuer Börneplatz aufgeführt ist. Der von der Großmarkthalle abgehende Transport erreichte jedoch seinen ursprünglichen Bestimmungsort nicht. Stattdessen wurden die 900 Frankfurter Jüdinnen und Juden in das litauische Kaunas (Kowno) gebracht. Unmittelbar nach der Ankunft am 25. November wurden die Deportierten aus Frankfurt zusammen mit den zuvor Eingetroffenen aus Berlin und München, insgesamt 2934 Menschen, vom Einsatzkommando 3 der Einsatzgruppe A des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD im Fort IX außerhalb der Stadt erschossen.
Die Liegenschaft Jordanstraße 13 wurde am 6. Februar 1942 auf den Reichsfiskus umgeschrieben und im Auftrag des Finanzamtes Frankfurt verwaltet, das bis 31. Dezember 1946 Mietüberschüsse vereinnahmte. Das Bankguthaben der Eheleute wurde vom Finanzamt eingezogen und zu Gunsten des Reiches verwendet. Die Metzgerei wurde 1943 durch den Metzger Valentin Schemm vom Finanzamt übernommen und noch bis 1960 weitergeführt.
Der Sohn Max, verheiratet mit Martha, geb. Wolf lebte ebenfalls in Frankfurt. Laut Entschädigungsakte ging die Familie 1928 nach Berlin. Aus dem Jahr 1933 ist aber auch eine Adresse in Frankfurt angegeben. Da der letzte freiwillige Wohnort noch nicht ermittelt werden konnte, werden die Stolpersteine für Max und Martha Reinheimer gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt verlegt.
Die Stolpersteine wurden initiiert von Fedor Besseler, einem Bewohner der Jordanstraße und finanziert von Heidi Stögbauer, Siglinde Steinbac, Ulli Pfaffinger und Petra Rösner.
Quellenangabe :
Entschädigungsakte HHStAW
Deportationsliste Riga
Stolpersteine zum Schauen, Lesen und Nachschlagen:
Film:
Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss
Regie Marvin J. Chomsky, USA 1978
Komm und sieh
Regie Elem Klimow, UdSSR 1985
Shoa,
Regie Claude Lanzmann, Frankreich 1985
Internet:
Portal der Stadt Frankfurt zum Nationalsozialismus zwischen 1933-45
https://www.frankfurt1933-1945.de/home
Die Quellen sprechen.
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 — 1945.
Eine dokumentarische Höredition.
Bayerischer Rundfunk und Institut für Zeitgeschichte
https://die-quellen-sprechen.de/index.html
Roman:
Anna Seghers,
Das siebte Kreuz
Berlin 2015
Ulrich Alexander Boschwitz
Der Reisende
2018 Stuttgart
Wassili Grossmann,
Leben und Schicksal
Berlin 2007
Wissenschaft:
Christopher Browning,
Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen.
Reinbek 1993
Hannes Heer, Hrsg.,
Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944
Hamburg 1995
Götz Aly und Susanne Heim,
Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung.
Frankfurt am Main 2013 (erweiterte Neuausgabe)
Götz Aly
Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus
Frankfurt am Main 2005
Dokumentation:
Spuren des Faschismus in Frankfurt.
Das Alltagsleben der Frankfurter Juden 1933 – 1945 ; eine kommentierte Materialsammlung,
1984
Deportationsbuch der von Frankfurt am Main aus gewaltsam verschickten Juden in den Jahren 1941 bis 1944 ;
(nach den Listen vom Bundesarchiv Koblenz),
Frankfurt am Main 1984
Juden in Bockenheim.
Begleitheft zu der Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Frankfurt am Main,
Frankfurt am Main 1990
Ensemble
20 Jahre voll mit Geschichten aus der Volkswirtschaft
Nr. 20: Vowis
„Schnaps für alle? Wann gibt es Freibier?“
Wir, die Kollegen, der Haufen, das Team, die Mannschaft, die Truppe, das Ensemble, die Brigade, das Personal, die Belegschaft, die Bande, die Gemeinschaft, die Meute, die Betriebsangehörigen
= die Vowis:
FBoy, Tina, Andrew, Fopper, Daisy, Armin, Pirkko, Karsten, Kerstin, Mike, Nina, Moni, Vera, Che, Sven Bil., Jadwiga und ihre Schwestern, Stephen, Sven Bra., Name vergessen, Silke oder Sylvia, Micha, Markus, Wiebke, Christian (groß), Christian (klein), Jürgen, Steffi, Helga, Helena, Daniel, Annabelle, Daniel Zipf, Leander, Aleks, Nadja, Kathi, Sabine, Beate, Esther, Joni, Name vergessen, Name vergessen
Bis auf einen, dem wir unterstellten, Geld aus der Kasse genommen zu haben, waren alle helfenden Hände Treibstoff der Kneipe. Zweimal hatte die innerbetriebliche Atmosphäre so viel indirekte Wirkung, dass kurz hintereinander zwei einzuarbeitende Belegschaftsmitglieder schwanger wurden. Niemand hatte die Absicht, eine Familie zu gründen. Ein paar Wochen später sah die Welt vollkommen anders aus.
Jeder half in der Kneipe auf seine Art. Der Arbeitsstill unterscheidet sich bis heute in die Fraktion der Hektiker und die der Phlegmatiker. Natürlich ist die Menge der Arbeit und deren Erfahrung ausschlaggebend. Ein Mittelmaß als phlegmatischer Hektiker erscheint mir am besten. Leider bin ich ganz und gar nicht mittelmäßig.
Das Verhältnis untereinander war gut, selten nur sachlich, meistens sehr gut. In bestimmten Situation gab es Spannungen. Ein Punkt ist Ordnung und Sauberkeit. Dazu kommt der Klassiker, ob einer denkt, mehr zu arbeiten als ein anderer. Diskussionen zwischen Chefs und Belegschaft gab es nur marginal. Mehr trugen zwischenmenschliche Konflikte, resultierend aus nicht geklärten Konflikten oder charakterlichen Schwächen einzelner zu Spannungen bei. Hilfreich ist es, eine Möglichkeit zu haben, darüber sachlich zu reden. Die Vorwürfe im Raum zu lassen oder sie sich abends im stillen Kämmerlein aufzusagen, erschwert alles. In den ersten Jahren wurde reichlichst gesprochen und weniger entschieden. Dies änderte sich, als wir merkten, dass die Entscheidungsfindung mehr Zeit brauchte als die Umsetzung. Anhand unserer Chefsitzungsprotokolle ist dies gut nachlesbar.
Viele der Brigade stehen treu zur „Volkswirtschaft“, heute mehr vor, als hinterm Tresen. Viele sind heute in ihren neuen Berufen für die Kneipe hilfreich, aber machen, wie man am 04.02.17 zur „20 Jahre voll“-Feier sieht, in der Kneipe Dienst.
Liebeleien untereinander und nicht dienstliche Verhältnisse zu Gästen gab es in den ersten zehn Jahren viel mehr als danach. Dies war innerbetrieblich selten anstrengend, aber immer großes Thema.
Der Umgang mit Alkohol war sehr individuell. Obwohl in den ersten Jahren die Bereitschaft zu trinken bei der Mehrzahl wesentlich ausgeprägter war. Dabei entwickelten sich eigenwillige Rituale und Leidenschaften für ganz bestimmte Schnäpse.
Zwei Geschichten möchte ich zum Abschluss erzählen. Sie zeigen an, warum man besser sein Telefon als Chef nie ausmacht, aber auch dass man sich darauf verlassen kann, dass in Abwesenheit das gerade arbeitende Team alle Aufgaben löst bzw. versucht zu lösen, aber nach seiner Art.
Wenigen Monate nach der Eröffnung kam ich am späten Vormittag auf Arbeit. Damals wurde noch viel früher als heute geöffnet. Pirkko, von der ich leider kein Foto habe, stand hinterm Tresen. Sie war klein, sanft, aber selbstbewusst, sehr freundlich und sehr fleißig. Stellt euch eine noch kleinere Björk vor. Der Ausdruck in ihrem Gesicht bei meinem Eintritt schwankte zwischen Hysterie und scheinbarer Souveränität. Die Kneipe war leer bis auf den Tresen. Dort saßen sechs Männer aus dem benachbarten Männerwohnheim für Obdachlose, was heute das Frauenwohnheim ist. Alle schlecht aussehend, alle nicht all zu gut riechend, alle stark angetrunken, alle laut, alle raumgreifend und sich dabei außerordentlich wohl fühlend. Keiner benahm sich direkt ungebührlich, aber der Begriff Spelunke oder Absteige passte hier aufs Wort. Pirkko hatte noch alles im Griff. Es bestand aber die immanente Gefahr, dass alles zur Gänze aus dem Ruder läuft aus irgendeinem nichtigen Anlass. Im Raum standen: aggressiv werden, Zeche prellen, neue Gäste abschrecken. Pirkko versuchte, ihre Arbeit unter diesen extremen Bedingungen sauber zu erledigen, ganz nach Maßgabe.
In der dritten Geschichte aus 20 Jahre voll hatte ich berichtet, wie uns die Deckelmacherei über den Kopf wuchs.
Wir alle mussten im Laufe der Zeit lernen, wie man mit bestimmten Gästen umgeht, und das dieser Umgang abhängig von unseren Ansagen war. Dies betraf die Deckel wie unsere Nachbarn aus dem damaligen Männerwohnheim.
Pirkko und ich lösten die Tresenrunde auf, indem wir kurzerhand „beschlossen“ zuzumachen oder eine Übergabe simulierten. Wir bereiteten eine ungemütliche Atmosphäre dazu (Musik von Zappa, Anfangen mit Saubermachen, Stühle hoch stellen, demonstrativ mit dem Portemonnaie hantieren, Rollläden runterkurbeln. Licht ausmachen bis auf eins), und recht schnell verließen die Männer unsere Kneipe. Problem gelöst, Umsatz gemacht und was dazu gelernt.
Die andere Geschichte fing mit einem Anruf so gegen 04.00 Uhr in der Frühe auf meinem Handy an. Ich wachte mit einem Schlag auf. Die Polizei bat mich, dafür zu sorgen, dass in meiner Kneipe die Musik leiser würde. Es gab Anwohnerbeschwerden über die Lautstärke. Zwar sei das Rollo unten, also der Laden wäre zu, aber es sei trotzdem zu laut. Ich rief in der Kneipe an. Niemand nahm ab. Vielleicht war alles nur ein Irrtum. Es half nichts. Ich musste nach Bockenheim, um nach dem Rechten zu sehen. Dort angekommen, fand ich alles friedlich. Armin machte die letzen Handgriffe. Die Musik lief leise im Hintergrund. Er war sich keiner zu lauten Musik bewusst. Zwar waren bis vorhin noch ein, zwei Gäste da gewesen. Man hätte nach Feierabend auf ein Bier zusammen gesessen und Musik gehört. Aber zu laut? Das Haustelefon habe er nicht klingeln gehört. Vielleicht hat es nicht richtig aufgelegen. Die Geschichte ist aus den Anfangsjahren der Kneipe. Da gab es noch andere Telefone als heute.
So lernten wir die Bedeutung des Telefons kennen, und wie Lautstärke unterschiedlich interpretiert werden kann.
Trotz dieser kleinen, aber in der Menge reichlichen Episoden lässt sich zusammenfassen, dass alle Arbeit erledigt wurde von uns, den Vowis, um die 20 Jahre der „Volkswirtschaft“ voll zu machen.
Ich hebe mein Glas, heute mit etwas anderem als Apfelsaftschorle, dem Getränk meiner Wahl der letzten beiden Jahrzehnte auf unser aller Wohl. Einer geht immer!
Sehen wir uns heute Abend?
Fortsetzung folgt
Preis
20 Jahre voll mit Geschichten aus der Volkswirtschaft
Nr. 19: Bierpreis
„Karsten. Ich sage es schon seit Jahren. Ihr seid zu billig! Ich nehme einen Süßen.“
Die prozentuale Entwicklung des Einkaufs- und Verkaufspreises von Bier 1997-2017
Die „Volkswirtschaft“ ist eine Kneipe, die an eine Brauerei gebunden ist. Die zum Oetker-Konzern gehörende Radeberger Gruppe ist unser Verpächter. Wir sind vertraglich verpflichtet, mehr oder weniger ausschließlich Produkte der Radeberger Gruppe zu verkaufen. Im Gegensatz zu brauereifreien Kneipen, wie dem „Tannenbaum“ müssen wir alle Getränke zu einem festen Preis abnehmen. Darüber kann man nicht verhandeln. Am Beispiel der prozentualen Entwicklung des Biereinkaufspreises (50-Liter-Fassbier Binding Römer Pils) und des Bierverkaufspreises (0,4-Liter-Glas Binding Römer Pils) der letzten zwanzig Jahre kann man betriebswirtschaftlich einiges ableiten.
Vom 01.02.1997 bis zum 31.01.2017 hat sich der Einkaufspreis für ein 50-Liter-Fass Pils um 45,7% erhöht.
Vom 01.02.1997 bis zum 31.01.2017 hat sich der Verkaufspreis für ein 0,4-Liter-Glas Pils um 26,08% erhöht.
Wir haben also noch Spiel nach oben für die nächste Preiserhöhung.
„Nach den 20-Jahres-Feiern gibt es eine Erhöhung.“
„Versprochen?“
„Ja.“
Klassik
20 Jahre voll mit Geschichten aus der Volkswirtschaft
Nr. 18 Fragen und Spielchen
„Hat Joschka Fischer eigentlich die Volkswirtschaft gegründet? Ich würde ein Pils nehmen.“
Vor vierzehn Jahren ist mir bereits aufgefallen, dass viele Gäste klassische Verhaltensweisen an den Tag legen, immer wiederkehrende Fragen stellen und lustige Spielchen treiben. Nur wenige machen lustige Sachen mit dem nötigen Ernst.
Zum 10jährigen der Kneipe habe ich darüber einen Film gedreht:
[archiveorg id=Einer_geht_Immer width=320 height=240]
Klassische Verhaltensweisen
> Viele Angetrunkene erzählen Geschichten doppelt und dreifach und fangen nach kürzester Zeit wieder an. Am nächsten Tag wissen sie es nicht mehr.
> Den meisten ist es peinlich, einen Deckel zu machen und daran erinnert zu werden. Höchststrafe ist es, durch die Kneipe zu brüllen, ob der Gast seinen Deckel bezahlt hat.
> Ein Gast erzählt etwas und nennt dabei einen Namen oder eine Person und kann es nicht fassen, dass der Wirt diesen oder ihn nicht kennt
> Ein am Tresen Sitzender erzählt ungefragt eine Geschichte mit epischem Ausmaß.
> Der Profitrinker, nach getaner Arbeit, fragt gerne mehrmals, ob er schon bezahlt hat, vergisst es aber nie.
> Der Profitrinker will nicht erinnert werden, dass er zu viel trinkt.
> In eine leere Kneipe geht man nicht gerne. Man denkt, dort sei nichts los ist, demzufolge ist es ein schlechter Laden.
> In eine volle Kneipe zwängt man sich gerne rein, weil es voll ist, muss es ein guter Laden sein.
> In die Kneipe zu kommen und so zu tun, als ob den Wirt bereits sein ganzes Leben kennt.
Immer wiederkehrende Fragen an mich
> Hast Du Kinder?
> Was studierst Du? (Seit vier, fünf Jahren nicht mehr.)
> Hält Du auch auf Dynamo Dresden? Du kommst doch aus der DDR? (Früher)
> Bist Du als Leipziger RB-Fan? (Heute)
> Kannst Du die Musik nicht lauter machen?
> Kannst Du – Du hast doch Internet- nicht was von Motörhead spielen?
> Trinkst Du keinen mit?
> Warum ist die Kneipe heute so leer?
> Bei euch ist es doch immer voll?
Lustige Spielchen
> Beim Bezahlen den Abkassierenden durch Aufsagen von Zahlen durcheinanderbringen.
> Nach dem Bestellen eines großen Bieres wieder ein großes bestellen, weil das erste ja ein vermeintlich kleines war.
> Immer die gleichen, oder noch schlimmer, den gleichen Witz(e) erzählen.
Ernst und lustig zugleich
„Mike Josef ist der Obama Frankfurts! Einen Sauergespritzten darauf!“
Mechanik
20 Jahre voll mit Geschichten aus der Volkswirtschaft
Nr. 17: Wie funktioniert die Vowi?
„Gibt es Absinth, Armin?“
Die Schönheit der Kneipe liegt im Auge des Betrachters. Wenn ich manchen Gast tagsüber treffe, reibe ich mir innerlich verwundert die Augen. Dass dieser oder jener so alt aussieht, ist mir im Dämmerlicht der Kneipe nie aufgefallen. Umgedreht geht es den Gästen mit mir sicher ebenso.
Kleopatra, die letzte ägyptische Pharaonin vor knapp 2000 Jahren, galt weniger durch Schönheit, vielmehr durch die Art ihres Auftretens und wie sie sich in Szene setzte, gepaart mit höchst intelligenten Eigenschaften, als edelstes Beispiel größerer innerer statt äußerer Reize.
Man kann eine Kneipe wie Emile Zola in seinem vor etwa 150 Jahren erschienenen Roman „Der Totschläger“ beschreiben. Davon trifft vieles noch heute zu. Die Glückseligkeit, betrunken zu sein hat sich am wenigsten geändert. „Was ist der schönste Tod?“ Besser: „Wie stirbt man am Schönsten?“, fragt ein Witz. Die Antwortet lautet: „Besoffen vom Bierwagen überholt zu werden, sei am Schönsten.“
Und es wirkt nicht anachronistisch, wenn ich behaupte, dass man –sich- im Bockenheimer Bermuda-Dreieck bestehend aus „Dr. Flotte“, „Tannenbaum“ und „Volkswirtschaft“ ersaufen kann.
Die Stühle, viele Tische, manches jahrelanges Provisorium, die zu kleinen Sitzflächen der Bänke (meine Schuld), der leicht zu putzende, aber für die Akustik abträgliche Fliesenboden, das aus bisher unerklärlichen Gründen oft nicht gut riechende WC (wird gerade erforscht) ergeben ein Bild (harte Faktoren) der Kneipe.
Die Gäste, die Wirte, die Stimmung, die Bekanntschaften, die Diskussionen, das Essen und die alkoholhaltigen Getränke (kaum, welche Biermarke es ist) ergeben ein anderes Bild (weiche Faktoren) der Kneipe.
Für die meisten Gäste aber zählt das weiche Bild. Nichtsdestotrotz arbeiten wir an den harten Fakten.
„Dann nehme ich einen Whiskey. Richtig torfig und phenolisch und einen Großen.“
Kochen
20 Jahre voll mit Geschichten aus der Volkswirtschaft
Nr. 16: Vowi-Cuisine
„Was ist der Unterschied zwischen den beiden Büble-Bieren, Karsten?“
Kopfschütteln
„Das Edelbräu hat mehr Alkohol und ist pilsartiger als das Helle.“
Der Gastraum der Kneipe ist knapp 50 Quadratmeter. Die Küche ist 16 Quadratmeter. Im Verhältnis gesehen, trägt sie zum Umsatz nicht viel bei. Küche in der Gastronomie rechnet sich nur, wenn die Stückzahl groß oder es hochpreisig ist.
Schon Ende der 90er im vorigen Jahrhundert hatte Moni, die Mutter unserer Exkollegin Nina, in der Kneipe ein Menü zubereitet. Hin und wieder stellten wir ein Buffet zusammen und kochten auch für 20 bis 30 Gäste ein kleines Menü. Aber von einer Vollauslastung der Kneipenküche konnte bis zum ersten Menü von Fabrice 2014 keine Rede sein. Es war ein Wink des Schicksals, auf dass ich heimlich gewartet hatte. Fabrice änderte seine berufliche Karriere als Koch und hatte somit Muße und Zeit, in der Kneipe ein Menü anzubieten. Ursprünglich sollten Volko, ein befreundeter Gast, der in der Stahlburg und im Heck-Meck kocht, gemeinsam mit Fabrice einmalig etwas zubereiten. Es kam anders. Bis jetzt haben Fabrice und sein getreuer Erster Assistent, unser Joao, mehr als siebzehn Menüs entworfen und zubereitet. Die Nachfrage ist immens.
Fabrice besitzt die Fähigkeit, die Gerichte mittels seines feinmechanischen Wissens zu ersinnen. Wie eine Spinne webt er eine Netz, auf dem die Ideen umgesetzt werden. Uns, die kleinen Spinnen, lässt er manchmal verwirrt zurück. Wir müssen erst lernen und fürchten uns ein wenig ,etwas falsch zu machen, denn während der Aufführung sollte kein Fehler passieren. Für mich aber ist es gerade das Schöne, wenn Fehler passieren, denn dann ist es wirklich spannend zu sehen, wie mit den Fehlern umgegangen wird.
Es ist beeindruckend zu beobachten, wie Fabrice und Joao das Menü planen, dann Fabrice die Reihenfolge des Kochens organisiert und natürlich wie gekocht wird. Seine Leidenschaft, seine geradezu groovischen Bewegungen, wenn er den Jus (die Vor-Soße) rührt, wie er schneidet, wie er abschmeckt und dabei ganz unprätentiös das Ergebnis beschreibt und wie er schließlich darauf achtet, wie das Essen auf den Tellern präsentiert wird, ist eine Geschichte für sich, die ich demnächst zur hoffentlich im Jahr 2017 stattfindenden 20. Vowi-Cuisine noch ausführlicher erzählen werde. Fabrice ist ein Glücksfall für die Kneipe!
Für eine Geschichte nur, die seinen Anspruch beschreibt, sei hier Platz.
Zum Hauptgang bei einer der letzten Menüs gab es Extrasoße in Saucieren. Diese standen auf Tellern, die mit einer Serviette unterlegt waren. Nachdem die Saucieren leer waren, sollten sie auf Wunsch neu befüllt werden. Ich brachte sie in die Küche. Fabrice, der schon längst am nächsten Gang arbeitete, sah mit einem Blick die Situation. Er nahm die alte Serviette zwischen den aufgefüllten Saucieren und Tellern weg und meinte: „Karsten leg doch eine neue Serviette unter die Saucier auf den Teller, wenn Du sie wieder rausbringst. Wir wollen doch oben mitspielen und nicht in der Regionalliga!“
„Ich nehme noch eins, wenn es geht ein warmes!“
Verwandtschaft
20 Jahre voll mit Geschichten aus der Volkswirtschaft
Nr. 15: Verwandtschaft
„Hallo Karsten. Dein Rotwein gestern, mit dem stimmt was nicht. Ich habe die ganze Nacht schlecht geschlafen.“
„Das war der gleiche Rotwein, den Du immer trinkst. Vielleicht nur zu viel.“
Eine Frau kommt in die Kneipe und bestellt fünf Getränke. Das kann vorkommen. Die restlichen vier Begleiter stehen vielleicht vor der Tür, um fertig zu rauchen.
Die fünf bestellten dunklen Krusovice werden gezapft und zum Tisch gebracht. Nach zehn Minuten sitzt sie immer noch alleine da. Auf meine Frage, warum sie fünf statt einem geordert hat, antwortet sie, sie trinke mit ihrem verstorbenen Vater, Ehemann, Bruder und Cousin ein Bier und stoße mit ihnen an. Prost!
„Hab ich schon bezahlt?“
„Vor einer Minute.“
Raten
20 Jahre voll mit Geschichten aus der Volkswirtschaft
Nr. 14: Quiz
„Beate, warum haben wir immer beim Quiz zu wenig Platz und müssen an dem Tisch sitzen? Wir nehmen dann erst mal einen Kamillen- und Rooibuschtee!“
Das Quiz in der Kneipe ist eine Institution.
Die Fragen sind vielfältig, anspruchsvoll, ausgewogen, spleenig, witzig, geist- und lehrreich. Von deren Qualität überzeugt, ist für uns die Nachfrage zum Quiz das entscheidendes Merkmal. Diese übersteigt regelmäßig unsere Kapazität. Um der Nachfrage Herr zu werden, soll die Anmeldung über unsere Kneipen-App erfolgen.
iTunes-Store:
Vowi App (iOS)
Google Play:
Vowi App (Android)
In einem komplizierten Auswahlverfahren organisiert Beate in Absprache die Teilnahme.
Die Qualität des Quiz hängt von ihren Machern Aleks und Tonio ab. Ohne die beiden würde es das Quiz nicht geben. Nachdem Aleks nach Hamburg verzogen und Vater geworden ist, hat Tonio die alleinige Verfügungsgewalt. Jahraus jahrein, Monat für Monat ohne Unterbrechung in einer bemerkenswerten Kontinuität meisterten Aleks und Tonio und jetzt Tonio allein die Fragerunden.
Anstatt über das Quiz erzählen, will ich berichten, wie ich Aleks und Tonio kennengelernt habe. Eigentlich sind es drei Freunde, die eines Tages am Tresen der Kneipe saßen. Neben den beiden genannten gehört Flo dazu. Die drei hätten unterschiedlicher nicht sein können. Sie unterstrichen ihre Unterschiedlichkeit so sehr, dass sie sich, mathematisch gesehen, hätten ausschließen müssen. Vielleicht erinnerte ihr Auftreten an das Schauspieler-Duo Walter Matthau und Jack Lemmon. Es wurde ständig diskutiert, man schenkte sich nichts, war entsetzt über den anderen, sah miesepetrig drein und lag sich später doch wieder in den Armen. Thematisch konnte es um pikante Jugendsünden mit codierten Spitznamen, Möglichkeiten und Fachbegriffe von Schamhaarrasuren, um ausgefallene Taschenmesser, um den Fußballverein VfB „Uttgadt“, um das Potential von 3D-Druckern, über die Sous-vide-Garmethode gehen. Eigentlich existierte kein Thema, zu dem es keine Meinung gab. Am ersten Abend kulminierte des gegenseitige Gehacke aufeinander in der Idee, dass der eine den andern ins Bett sch… würde, wenn er das nicht zurücknehme oder jenes nicht sofort unterlasse. Das war bierernst gemeint im wirklichen Sinn des Wortes. Tonio wiederum saß zwischen den beiden Streithähnen und lächelte, griff kleinstteilig ein und strahlte Gelassenheit aus: eine Ruhe der Erkenntnis unter der Pappelfeige hier in der Kneipe.
Im Zusammenhang mit Schamhaarrasur möchte ich anmerken, dass die drei in der Lage sind, über Sexualität zu sprechen, ohne dass es wie beim Urologen oder wie ein Porno klingt. Ein Vermögen, was nur wenige besitzen. Unsere ehemalige helfende Hand Jürgen hat die gleiche Fähigkeit.
Tonio und Aleks und ein wenig auch Flo ist ein Denkmal für das Quiz, gewiss. Dank ist zu wenig. Ich verbeuge mich in Verehrung!
„Gibt es auch Heiße Milch?“
Austausch
20 Jahre voll mit Geschichten aus der Volkswirtschaft
Nr. 13: Austausch mit und ohne Worte
„Ein Pils aus einem trockenen Glas oder wie der Spanier sagt: Eine Vase Servietten!“
Die Kneipe war und ist Schauplatz von Beziehungsdramen. Manche Ehe bzw. Beziehung hat die Vowi gestiftet. Darauf können wir ein wenig stolz sein. Einiges ging hier wiederum emotional zu Bruch. Immer wieder fungiert man hinterm Tresen als Seelentröster oder als sauberes Taschentuch, was den Liebeskummer kanalisiert. Hin und wieder versuchte ich zu lindern oder einfach nur Mut zuzusprechen. Nicht selten höre ich bloß zu, denn Liebeskummer ist ein Kummer mit sich selbst, vielmehr über sich. Man wird plötzlich verlassen oder hat soviel Mist verzapft, dass man mit Ansage verlassen wird. Man wird nicht von seiner Angebeteten erwählt oder findet nie diese eine. Der Lebenssinn geht stiften. Man fühlt sich mit sich selbst allein. Es bleibt die Seligkeit des Bieres und einer, dem man das alles erzählen kann. Mir.
In einem eigenwilligen Intermezzo zweier Gäste musste der jeweils unterlegene bei einem Spiel etwas ausziehen. Als schließlich einer den Gürtel seiner Hose mit todernster Miene zog, wollte ich eingreifen. Beide saßen sich wie zwei schießwütige Cowboys gegenüber. Mehr wollten sie wohl nicht. Das Spiel war zu Ende.
Wildes penetrantes Geknutsche ist vorgekommen, was nicht störte. Anstrengender war eine Art Petting, was ein Pärchen immer wieder in der vollen Kneipe vollzog. Zu viel Intimität kann befremdend und abstoßend wirken. Nach dem wiederholten Auftreten des Pärchens war ich kurz davor, sie anzusprechen und zu bitten sich für ihr intimes Vorspiel einen anderen Ort zu wählen. Als ob sie es gewusst hätten, tauchten sie nicht mehr auf.
Sex auf dem WC soll es gegeben haben. Ich war nicht dabei. Die Indizien sprechen dafür.
Aus gut unterrichteten Kreisen weiß ich, dass man hinter dem Tresen eindeutige Angebote zum Sex bekommen kann. Wenige hielten dem stand. Es gab mindestens einen, der aus jugendlichem Übermut seiner Leidenschaft kein Hausverbot gab und das Angebot annahm.
Einige Gäste haben, gerne am vollbesetzten Tresen, keine Scheu, über ihre Sexualität zu sprechen oder darüberhinaus, sie zu zeigen.
Manche tun es aus Spaß. Bei anderen wiederum fehlt ein Scham- und Distanzgefühl. Sie erinnern an Kinder.
Diesen Zettel mit wegretuschiertem Namen fand ich vor etlichen Jahren nach Mitternacht beim Aufräumen. Was daraus geworden ist, weiß ich nicht.
„Der Wirt kriegt kein Trinkgeld.“