Стансы

Russisches Alphabet_С

Hier noch ein Gedicht von Jessenin aus dem Jahre 1924.
Ob er mit dem Titel Stanzen das technische Verfahren des Stanzens (Schneiden), eine Art Stechmücken oder eine Versform meint, weiß ich nicht.
Wenige Monate vor seinem Tod war Jessenin auf Einladung von P. Tschagin in Baku am Kaspischen Meer. Deshalb nimmt das dort geförderte Öl, das ausströmende brennende Erdgas und sein Gastgeber Platz im Gedicht ein.
Ich finde die Zerrissenheit des Dichters wieder. Wo gehört er hin, wo ist seine Heimat. Mühelos flieht Jessenin zwischen Naturbeschreibung, Innenschau, Agitop und eigener Lebensgeschichte hin und her.

Stanzen
P. Tschagin gewidmet

Ich weiß genügend
über mein Talent.
Und Verse sind nicht all zu schwer zu machen.
Am meisten aber
foltert und verbrennt
und quält die Liebe mich zu meinem Land.

Paar Reime zimmern
kann wahrscheinlich jeder –
von Mädchen, Sternen, Mond und Liebesschmerz…
Mir schnüren andere
Gedanken meinen Schädel.
Andre Gefühle
fressen mir das Herz.

Ich will hier Sänger sein
und guter Bürger,
für jeden Beispiel:
Stolz und echter Sohn –
kein in die Ehe eingebrachtes
Ziehkind
den großen Staaten der Sowjetunion.

Ich bin für lang aus Moskau weggelaufen:
Mit der Miliz mich gut stelln
schaff ich nicht.
nach jeder Biertour und für jedes Saufen
steckten sie mich ins Loch und machten dicht.

Ich sehe alles
und verstehe ganz –
die neue Ära
ist kein Zuckerlecken,
und Lenins Namen
rauscht wie Wind durchs Land,
wie Mühlenflügel
die Gedanken weckend.

Das Jahr läuft hin
wie Bäche in den Nebelfluß.
Städte flimmern vorbei
wie Ziffern auf Papier.
In Moskau war ich noch,
jetzt bin ich in Baku.
Ins Reich der Erdölfelder
führt uns Tschagin hier.

Er sagt:“Sind diese
Ölfontänentürme denn nicht
schöner als aller Kirchen Heilsgefüge?
Mystische Nebel gibts schon Genüge.
Jetzt, Dichter, sing,
was fest ist und lebendig!“

Öl auf dem Wasser
wie ein Perser dick.
Über den Himmel groß
der Abend ein Sack Sterne.
Ich aber schwör
aus reinen Herzen hier:
Schöner als Sterne
sind Bakus Laternen.

Und selber
klopfe ich den hals mir sanft
und sag:
„Die Zeit ist da, wir müssen uns beeilen –
los Sergej,
setzten wir uns still an Marx,
enträtseln Weltweisheit
aus langweiligen Zeilen!“

Deutsch von Rainer Kirsch
aus Sergej Jessenin, Gedichte, Leipzig 1988