Russisches Alphabet_Ч
Es war einmal -weil es so lange zurückliegt, können sich die Wenigsten daran erinnern – ein Königreich. Hier sollte alles anders als in den übrigen Königreichen gemacht werden. Der König und seine Minister entschieden, die Zeit still stehen zu lassen. Die Vergangenheit durfte es noch ein wenig geben. Vor allem gab es Zukunft, vermengt mit ein wenig Gegenwart. Weil dies nicht jeder gleich verstand, erfanden der König und seine Minister kurze zusammenfassende Phrasen. Die sollten alle kennen und falls sie gefragt wurden, laut aufsagen. Schließlich bauten der König und seine Minister einen tiefen Graben um das Reich. Denn sie waren sauer, dass es immer noch einige gab, die nicht hier leben wollten. Wenn sie schon das Königreich verließen, dann wenigstens mit zwei gebrochenen Beinen oder am besten mit gebrochenem Rückrad.
Viele junge Menschen interessierten sich wirklich mehr für die Zukunft als für die alten Geschichten von früher. Die jungen Menschen preisten den König und seine Minister. Sie wollten mithelfen, die Zukunft zu gestalten. Sie bestellten die Felder oder später montierten sie im VEB Robotron zwar noch sehr große, aber leibhaftige Computer. Andere fuhren in ein befreundetes Königreich, was viel weiter im Osten lag. Dort halfen sie eine Mückenplage zu besiegen, indem sie Eisenbahnschienen verlegten.
Die viele Arbeit stumpfte die jungen Menschen ab. Die gelernten Phrasen erklärten den Rest, und schließlich gab es für junge Eheleute einen Kredit vom Königreich und eine Wochenkrippe (Montag Kinder hinbringen, Freitag Kinder abholen) für den Nachwuchs.
Das Leben hätte so schön sein können. Fast schon heute, aber ganz sicher dann morgen. Nicht ganz. Denn ein paar Ungläubige, Nachfragende, die sich auf ihren Menschenverstand und auf einen funktionierenden moralischen Kompass verlassenden jungen Menschen in diesem Königreich machten nicht mit. Der König und seine Minister sperrten ein paar ein, andere brachen sich im Grenzgraben das Rückrad. Den Rest erklärten sie für überflüssig. Wozu sollten diese überflüssigen Menschen gut sein im Königreich. Zwar waren sie in der Schule seltener sitzengeblieben als andere Schüler der 13. POS „August Bebel“ im Leipziger Osten. Zwar konnten einige passabel Russisch, aber ihnen fehlte der Phrasenstandpunkt. Für den König und seine Minister waren die Überflüssigen wie verschüttetes Wasser aus einem Eimer. Wasser war genug da, dachten sie. Da konnte ruhig etwas daneben fließen. Zum Schluss war es so viel überflüssiges Wasser, dass die Phrasen weggespült wurden und die Menschen den König und seine Minister verjagten.
Leider waren die überfüssigen Menschen schon lange vor ihnen weg, wohin auch immer.
Der Ausdruck Überflüssiger Mensch stammt aus der russischen Literatur des 19. Jahrhundert. Damit ist oft der Intellektuelle, Pessimist und Zyniker gemeint, der in irgendeinem russischen Gutshof der Freund des Sohnes des Gutsherren ist. Leider verliebt sich die junge Tochter des Gutsherren in den schwarz gekleideten Zyniker vom Dienst. Es endet zumeist tragisch.
Anstatt also der Gesellschaft zu helfen, drängen die Umstände so manchen klugen Geist in eine Position, wo sie überflüssig werden für die Gesellschaft, die Liebe und für sich selbst. Zu viel Nietzsche und Schopenhauer gelesen.