Am 16. Mai, 11.25 Uhr werden in der Jordanstraße 13 drei Stolpersteine offiziell enthüllt.
Sie sind bereits verlegt.
Diese erinnern an die Familie Reinheimer, die in der 1. Etage gewohnt haben:
Karl Reinheimer
Geburtsdatum : 4.11.1876
Deportation : 22.11.1941 Kowno/Kaunas
Todesdatum : 25.11.1941
Sofie Reinheimer, geb. Stern
Geburtsdatum : 9.10.1878
Deportation : 22.11.1941 Kowno/Kaunas
Todesdatum : 25.11.1941
Erna Reinheimer
Geburtsdatum : 1905
Todesdatum : 22.3.1939
Die Steine zeugen für drei Menschen, die hier gewohnt und gearbeitet haben, wo sich heute die „Volkswirtschaft“ befindet. Die Steine mahnen und klagen die Enteignung, Verfolgung, Deportation und Ermordung von Karl und Sofie Reinheimer ins besetzte Litauen 1941 an.
Die Familie wohnte (1. Etage) und arbeitete (Erdgeschoss, eigene Metzgerei, neben der Restauration Ungeheuer, deren männliche Nachfolge -Ururenkel-, ich das Foto der Schankwirtschaft von 1915 verdanke) in der Jordanstraße 13.
Also genau am gleichen Ort über 70 Jahre später, wo heute immer noch ein Kneipe existiert, als verlängertes Wohnzimmer dient, wo getrunken, gegessen, geredet, gefeiert, gestritten, sprich gemeinsam Zeit verbracht wird. Wir können uns heute hier zu Hause fühlen, genauso, wie sich die Familie Reinheimer in diesem Haus zu Hause gefühlt hat, nehme ich an. Wissen tue ich nur, dass ihnen ihr Zuhause, ihre Metzgerei, ihr eigenes Haus und schließlich ihr Leben genommen wurde. Erst vom Staat ausgeraubt, legitimiert durch rassistische Gesetze und umgesetzt vom Finanzamt, und wenige Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion, von der alten Großmarkthalle in Frankfurt in das eroberte Litauen deportiert, um dort von Einsatzgruppen der SS mit Hunderten anderen erschossen zu werden.
Die Schuldigen für diesen Raub und Mord an einer jüdischen Familie aus der Jordanstraße sind mutmaßlich bekannt. Manche wurden benannt, manche mussten ihre Taten vor Gericht verantworten, manche wurden verurteilt.
Die Verantwortung für diese Taten kann durch keine höhe Gewalt oder eine Art Befehlsnotstand gerechtfertigt werden.
Die gesellschaftliche Struktur für solch ein Tat, Holocaust genannt, existierte in Deutschland vielleicht lange vor dem 1. Weltkrieg, vielleicht seit 1870/71 mit der Gründung des Kaiserreiches. Ein weites Feld. Nicht einfach in Begriffe zu bringen, dennoch eingrenzbar. Aber nicht an dieser Stelle.
„Mehr Demokratie wagen“ war Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg die Losung eines sozialdemokratischen Kanzlers. Sie war mutig und brachte unter anderem den wirklichen Beginn der Aufarbeitung der Zeit 1933-45 mit sich. Fernsehserien zum Thema halfen, die Wissenschaften forschten und schalteten das Licht in einer verschlossen Kammer an, und langsam wurde die Vergangenheit sichtbar, weil das Schweigen nicht hielt, weil die Beweise für Schuld und Verantwortung nicht mehr zu leugnen waren.
Wir, heute hier, sind ohne Schuld, aber in Verantwortung. Sie mahnt, die Geschichte des Holocaust (Fakten, wie Schicksale) zu buchstabieren, sowie die Erinnerung daran, als Gewissen zu verstehen, nicht zu vergessen.
Das Leben von Sofie und Karl Reinheimer, ihre Tochter Erna starb aus unbekannten Gründen 1939, wurde 1941 genommen. Sie lebten, vor über 70 Jahren, in Frankfurt, im Stadtteil Bockenheim, in der Jordanstraße 13,
genau hier.
Die Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main brachte folgendes über die Familie Reinheimer ans Tageslicht.
Vielen Dank an Martin Dill für die Vorab-Informationen!
Eine App verschafft digitalen Zugang zu allen Stolpersteinen in Deutschland:
Karl Reinheimer wurde in Beerfelden geboren und war mit der in Niederohmen geborenen Sofie, geb. Stern, verheiratet. Ab 1904 ist er als Metzger in der Jordanstraße verzeichnet, zunächst in Hausnummer 30. Etwa im selben Jahr kaufte er von der Witwe Stamm das Eckhaus zur Kiesstraße (damals Jordanstraße 47) und eröffnete neben der Gaststätte Ungeheuer im Erdgeschoss seine Metzgerei. Ab Adressbuch 1920 trägt das Haus die Hausnummer 13. Neben den Eheleuten arbeitete in der Metzgerei auch noch ein Geselle. Das Ehepaar lebte in der Wohnung im ersten Stock.
Karl und Sofie Reinheimer hatten zwei Kinder: Den Sohn Max, der am 27. Mai.1903 geboren wurde und dessen späterer Beruf mit Redakteur angegeben wird und die Tochter Erna, die bereits 1939 unter nicht näher bekannten Umständen im Jüdischen Krankenhaus in der Gagernstraße 36 verstarb.
Am 31. März.1938 musste Karl Reinheimer sein Geschäft als Folge der antisemitischen Verfolgung und Boykotte aufgeben. Die steuerliche Abmeldung erfolgte zum 21. Mai 1938. Laut Entschädigungsakte widersetzte sich Karl Reinheimer bis zu seiner Deportation dem Druck zum Verkauf des Hauses. Eine Sicherungshypothek in Höhe von 16.350 Reichsmark zu Gunsten des Reiches für eine eventuell anfallende Reichsfluchtsteuer wurde eingetragen. Außerdem musste eine „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von rund 20.000 Reichsmark für die Eheleute und mindesten 900 Reichsmark für die verstorbene Tochter entrichtet werden.
Das Ehepaar Reinheimer wurde bei der dritten großen Deportation aus Frankfurt laut Deportationsliste nach Riga verschleppt, das bislang irrtümlich als Sterbeort galt und deshalb auch auf dem Namensfries der Gedenkstätte Neuer Börneplatz aufgeführt ist. Der von der Großmarkthalle abgehende Transport erreichte jedoch seinen ursprünglichen Bestimmungsort nicht. Stattdessen wurden die 900 Frankfurter Jüdinnen und Juden in das litauische Kaunas (Kowno) gebracht. Unmittelbar nach der Ankunft am 25. November wurden die Deportierten aus Frankfurt zusammen mit den zuvor Eingetroffenen aus Berlin und München, insgesamt 2934 Menschen, vom Einsatzkommando 3 der Einsatzgruppe A des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD im Fort IX außerhalb der Stadt erschossen.
Die Liegenschaft Jordanstraße 13 wurde am 6. Februar 1942 auf den Reichsfiskus umgeschrieben und im Auftrag des Finanzamtes Frankfurt verwaltet, das bis 31. Dezember 1946 Mietüberschüsse vereinnahmte. Das Bankguthaben der Eheleute wurde vom Finanzamt eingezogen und zu Gunsten des Reiches verwendet. Die Metzgerei wurde 1943 durch den Metzger Valentin Schemm vom Finanzamt übernommen und noch bis 1960 weitergeführt.
Der Sohn Max, verheiratet mit Martha, geb. Wolf lebte ebenfalls in Frankfurt. Laut Entschädigungsakte ging die Familie 1928 nach Berlin. Aus dem Jahr 1933 ist aber auch eine Adresse in Frankfurt angegeben. Da der letzte freiwillige Wohnort noch nicht ermittelt werden konnte, werden die Stolpersteine für Max und Martha Reinheimer gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt verlegt.
Die Stolpersteine wurden initiiert von Fedor Besseler, einem Bewohner der Jordanstraße und finanziert von Heidi Stögbauer, Siglinde Steinbac, Ulli Pfaffinger und Petra Rösner.
Quellenangabe :
Entschädigungsakte HHStAW
Deportationsliste Riga
Stolpersteine zum Schauen, Lesen und Nachschlagen:
Film:
Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss
Regie Marvin J. Chomsky, USA 1978
Komm und sieh
Regie Elem Klimow, UdSSR 1985
Shoa,
Regie Claude Lanzmann, Frankreich 1985
Internet:
Portal der Stadt Frankfurt zum Nationalsozialismus zwischen 1933-45
https://www.frankfurt1933-1945.de/home
Die Quellen sprechen.
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 — 1945.
Eine dokumentarische Höredition.
Bayerischer Rundfunk und Institut für Zeitgeschichte
https://die-quellen-sprechen.de/index.html
Roman:
Anna Seghers,
Das siebte Kreuz
Berlin 2015
Ulrich Alexander Boschwitz
Der Reisende
2018 Stuttgart
Wassili Grossmann,
Leben und Schicksal
Berlin 2007
Wissenschaft:
Christopher Browning,
Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen.
Reinbek 1993
Hannes Heer, Hrsg.,
Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944
Hamburg 1995
Götz Aly und Susanne Heim,
Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung.
Frankfurt am Main 2013 (erweiterte Neuausgabe)
Götz Aly
Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus
Frankfurt am Main 2005
Dokumentation:
Spuren des Faschismus in Frankfurt.
Das Alltagsleben der Frankfurter Juden 1933 – 1945 ; eine kommentierte Materialsammlung,
1984
Deportationsbuch der von Frankfurt am Main aus gewaltsam verschickten Juden in den Jahren 1941 bis 1944 ;
(nach den Listen vom Bundesarchiv Koblenz),
Frankfurt am Main 1984
Juden in Bockenheim.
Begleitheft zu der Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Frankfurt am Main,
Frankfurt am Main 1990