Wenn in der Vowi die Gäste verabschiedet sind, werden die Stühle hochgestellt, damit der brave, immer das Gleiche redende, Kollege aus China, seine Arbeit verrichten kann. Die Rollläden werden nach unten gedreht. Der Tag muss buchhalterisch zusammengefasst werden und schließlich soll alles so hinterlassen sein, dass am nächsten Tag nahtlos weitergemacht werden kann. Dazu gibt es, wie zu vielen in der Kneipe, eine Liste. Ihr seht also, auch die Vowi bzw. deren „Bewusstsein“,, kann sich dem „Sein“ nicht entziehen. Künstliche Intelligenz ersetzt den handgeschwungenen Besen. Bürokratisierung von selbst einfachen Dingen, beispielsweise, was man beim Zumachen der Kneipe zu beachten hat, schafft Transparenz, Nachvollziehbarkeit und ergibt damit einfachen Austausch von Arbeitskraft. Gleichzeitig straft dies jeden eigensinnigen Zug ab, weil nichts davon auf der Liste steht. Oben drauf kommt noch eine Instanz, welche kontrolliert und im Zweifel oder bei Fehlern richtet.
Mit solchen halbgegarten Gedanken trete ich natürlich nicht in die Pedale, um nach Hause zu kommen. Die nächtliche Ruhe, der Fahrtwind und der Abstand lassen mich die Arbeit nach und nach vergessen. Kurz vor der Ziellinie, auf den letzten Metern – der Flamme Rouge – muss ich eine kleine Steigung auf der Rotlintstraße bewältigen. Harmlos in Länge und Anstieg. Aber, wie ich sie auch probiere zu fahren, das Kopfsteinpflaster auf etwa mehr als 150 Metern versiegelt unerbittlich alles in seinem Takt.
Versuche meinerseits, eine, wenn auch schmale glatte Route zwischen den Pflastersteinen zu finden, nützen nicht.
Langsam zu fahren nützt nicht.
Schnell zu fahren nützt nicht.
Mit viel Kraft zu fahren nützt nicht.
Den Lenker besonders – mehr außen, mit mehr Kraft – festzuhalten nützt nicht.
Mit einer heraufbeschworenen Leichtigkeit zu fahren, nützt nicht.
Das Kopfsteinpflaster hämmert ohne Unterlass ganz seinen eigenen Rhythmus.
Ein Umweg wäre noch möglich. Aber ich nehme natürlich die Herausforderung an. Ein neuer Versuch. Lieber ein neuer Versuch!
Obwohl, ich gebe es zu, es vorkommt, dass ich entkräftet vom Rausch in der Kneipe, mich bereits auf dem ersten Meter geschlagen gebe. Ich komme schon voran, aber nur mühsam. Die Kraft ist längst verrauscht. Putain!
Am Sonntag in der Vowi kann den pedalierenden Männern in Nordfrankreich beim Klassiker „Paris-Roubaix“ zugeschaut werden.
Mehr Richtung Brüssel als Paris. Selbst London ist nicht viel weiter.
Mehr in Departements, wo 2022 bei den Präsidentschaftswahlen Marine Le Pen die Mehrheit der Stimmen erhielt.
Weg von der Sahneseite der französischen Küche der Creme Chantilly, etwa 40 km von Paris in Chantilly hin zur französischen Kohleregion, welcher der Schriftsteller Emile Zola mit seinem Roman „Germinal“ ein gewaltiges Denkmal hinterließ.
Bis heute steht in dieser Region das Kopfsteinpflaster sinnbildlich für die Schwere der Arbeit in den Kohlegruben, die großen sozialen Umwälzungen und Verwerfungen ihres Aufstiegs und Niederganges.
Kultur wird hier weniger an der Süße der Creme Chantilly als an der Tradition der Frittenbude „Friterie Sentas“ vor dem Stadion in Lens gemessen.
Wir würden ganz sicher nicht Marine Le Pen wählen. Wer dennoch erfahren möchte, warum Diagnose und Behandlungsmethode des Zustandes unseres Nachbarlandes bei vielen so radikal ist, kann bei Michel Houellebecqs letztem Roman „Vernichten“ nachschlagen. Hier geht es um die Kernaussage, dass es noch schrecklicher ist, allein zu jung zu sterben, als hoffnungslos allein in einem Land wie Frankreich zu leben. Seine Sichtweise, voller Vorurteile, Ängste und Aggressionen auf die Gesellschaft, insbesondere auf Frauen, tönt wie ein Stopp alles bisherigen Sozialen. Alles ist nutzlos, nichts hilfreich und wird immer schlimmer. Es bleibt nur noch, und bis dahin ist es ein langer Weg im Buch, die Familie übrig. Im Kreise dieser lernt er selbst seinen nahenden Tod zu ertragen. Dies hilft zwar nicht, seinen Tod aufzuschieben, aber er lernt, trotz seines Endes dem Leben einen Sinn zu geben.
Harter Stoff. Ich empfehle auf jeden Fall mehr Sport. Michel Houellebecq soll dem Rennrad fahren nicht abgeneigt sein. Ihm würde es sicher gut tun, nach seinem Aussehen zu urteilen, mehr zu radeln.
Am Sonntag also in der Vowi kann den pedalierenden Männern in Nordfrankreich zugeschaut werden.
wenn sie auf einer Strecke von insgesamt 259,7 km 55,7 km Kopfsteinpflaster, aufgeteilt in Dreißig „Secteurs“ mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden um die Wette fahren. Kein Regen, so lautet es heute, ist der einzige Trost der Rennfahrer.
Wir sitzen in der Vowi auf jeden Fall ab 13.30 Uhr im Trockenen.
Drei Kästen Leffe hell sind im Keller.
Frische Pommes sind da.
Als Soßen habe ich, neben Ketchup, Mayo und Curryketchup,
Aioli (Ei, Olivenöl, Senf, Knoblauch, Salz und Pfeffer),
Belgische Frittensoße (Zwiebel, Gewürzgurke, Eigelb, Senf, Curryketchup, Öl, Balsamico, Curry, Zucker, Salz),
Andalusische Frittensoße (Zitrone, Mayonnaise, Ajvar, Tomatenmark, Knoblauch, Paprikapulver, Cayennepfeffer, Salz).
Ab 13.30 Uhr ist am Sonntag die Vowi geöffnet!
Neu Rot_Bewegung_Lieber einer neuer Versuch
(Habe ich gar nicht erwähnt, dennoch sehr interessant)
Diagonale du vide
Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2022
Michel Houellebecq