Мемориал

Russisches Alphabet_М

Der Umgang mit Geschichte im Studierzimmer ist einfach. Der Elfenbeinturm der Wissenschaft ist verwinkelt. Man gönnt dem Anderen seine Nische, wenn er sich nicht zu breitmacht. Der Prof ist meistens nicht da und interessiert sich für seine Doktorand vielleicht als Mann oder Frau, aber nicht – zu Recht – für dessen eher mäßige Wissenschaft.
TV-Serien zur Geschichte haben es einfacher. Sie müssen es nicht zu genau nehmen. Die Daten sollten stimmen. Den Dreck unter den Fingernägeln vergangener Jahrhunderte könnte man in HD gut sehen, aber die Dekoration gefüllt mit Plüsch, Muskeln oder nackter Haut ist wichtiger. Ist verständlich. Ich will ja auch nicht ständig an die Arbeitsbedingungen der chinesischen Arbeiter, die mein iPhone herstellen, erinnert werden.

Was mache ich jetzt mit dieser nervigen Geschichte?
Ich kann sie
leugnen, totschweigen, kleinreden, relativieren (um sie umzudeuten) oder an sie erinnern, darstellen (von vielen Seiten), aufschreiben und nicht vergessen.

Im Gastgeberland der Fußballweltmeisterschaft 2018 wird versucht (ähnlich wie gerade in Polen oder der Türkei), die eigene Geschichte umzudeuten. TV-Serien sind dafür ein wirksames Mittel. Später gibt es neue Lehrpläne in den Schulen. Dann werden missliebige Museumsdirektoren der zeitgeschichtlichen Museen ausgetauscht. Und schön gärt dieses Gemisch.
Ich darf dies hier in Deutschland alles so schreiben. In Russland könnte ich dafür vielleicht Ärger bekommen. Denn ich wäre als halbstudierter Historiker vielleicht in Moskau lebend bei dem Verein Memorial. Dieser kümmert, erinnert und erforscht neben der russisch/sowjetischen Zeitgeschichte ebenso aktuelle Menschenrechtsverletzungen in Russland. Die Organisation steht aktuell auf einer beim russischen Justizministerium einsehbaren Liste von ausländischen Agenten. Weil Memorial Spenden aus dem Ausland (Sorros-Stiftung, Heinrich-Boll-Stiftung, Privatperson Karsten Maaß) bekommt, in Russland registriert und dort politisch aktiv ist, wird seine Arbeit beobachtet und eingeschränkt.

Die Umdeutung der russischen Geschichte findet aktuell statt. Sinnigerweise ist sie mit zwei weiteren Buchstaben (Themen) des Russischen Alphabets verbunden: 100 Gramm Wodka und dem Maler Ilja Repin.
Vor kurzem wurde sein Bild „Iwan der Schreckliche und sein Sohn Iwan am 16. November 1581“, welches in Moskau in der Tretjakow-Galerie hängt, von einem Besucher beschädigt. Zur Stärkung trank er davor 100 Gramm Wodka. Als Grund nannte er, dass auf dem Gemälde einiges falsch sei. Ohne näher darauf einzugehen, passt das Ziel des „Bildattentat“ zu Äußerungen von bekannten Geistlichen und Politikern u.a. Iwan den Schrecklichen und seine Zeit nicht mehr so „schrecklich“ darzustellen, wie bisher. Positive Bezüge zur Geschichte werden gesucht und, falls nicht vorhanden, geschaffen.

„Memorial“ hilft, Geschichte nicht zu vergessen.

REPIN_Iwan der Schreckliche

Ilja Repin, Iwan der Schreckliche und sein Sohn Iwan am 16. November 1581