Mail an DiasporaOst 26.03.2024

Hallo,
mein Name ist Karsten Maaß.
Als Mitglied der Band „Neu Rot“, gegründet in Leipzig, seit Jahrzehnten in Frankfurt am Main, bin ich ein Interviewter im Magnetizdat-Band, der bei Euch am 30. Mai Thema sein wird. Geboren wurde ich 1966 in Leipzig, wenige Tage vor dem Fall der Mauer bin ich noch in den „Westen“ abgehauen, seitdem wohne ich in Frankfurt am Main.
Eure Sicht und Interpretation


https://www.instagram.com/diasporaost/
https://www.avldigital.de/de/vernetzen/details/event/traumen-und-fuerchten-narrative-der-ddr-und-ostdeutschlands-veranstaltungsreihe-von-diasporaost-m/

auf die Geschichte der DDR und der Neuen Länder im Rahmen von DiasporaOst ist eine andere, als ich sie habe. Ich würde andere Wörter benutzen, um über mein eigenes Leben dort zu erzählen. Darüber hinaus würde ich das „Leben und Sterben im ersten deutschen Arbeiter- und Bauern-Staates“ anders interpretieren. Meine unten ausgeführten Gedanken über Eure Reihe sind in der Summe ein persönlicher Blick zurück in einer allgemeineren Deutung.
Euer Ziel ist es, „Leben, Liebe und Träume oder, Fürchten und Wünschen“ der Ostdeutschen in der Zeit von mindestens dem Mauerbau bis heute mittels Begriffe wie „Diaspora, Narrativ, Transfer(iert), Legitimationsdruck, Delegitimierung, immanenten und kollektiven Widersprüchlichkeiten“ aufzulösen oder zu erklären. Wollt Ihr ein Seminar an der Uni machen oder wollt Ihr erzählen lassen, um zuzuhören? Ihr wollt Wissenschaft betreiben, dann nennt bitte Euren Theorieansatz. Fragt Ihr wirklich nach oder denkt Ihr vielmehr, die Antworten längst zu kennen?
Ihr meint, von den bisherigen schablonenhaften „Täter-Opfer, Stasi-Opposition, Diktatur-Freiheit“-Bezügen wegkommen zu wollen.
Ich empfinde Eure Wahl der Wörter und Euer Schweigen zu den Verbrechen und Ungerechtigkeiten des DDR-Staates als Fortsetzung meiner eigenen erfahrenen Auseinandersetzung mit dem politischen System der DDR. Der Staat bzw. seine Vertreter hätten mich gerne in eine Schablone gepresst, um mit mir entsprechend zu verfahren. Dies gelang nicht so richtig. Also schob man mich beiseite. Ich verkroch mich in einer Nische, bis der Staat erneut zugriff und von mir verlangte mich zu äußern, ob ich für oder gegen den Staat bin. Nicht ganz wie Fidel Castro es nicht schrecklicher ausgedrückt hat mit seiner Parole Sozialismus oder Tod. Glücklicherweise ist mir diese Frage zu beantworten erspart geblieben. Um nicht zur Nationalen Volksarmee eingezogen zu werden, stellte ich einen Ausreiseantrag.
Für die Zeit nach 1989 frage ich Euch:
War die Wiedervereinigung 1990 aus ostdeutscher Sicht eine freiwillige Entscheidung mittels Wahlen oder ein Gewaltakt der BRD?
Kann man von in der DDR sozialisierten Biographien, wie beispielsweise meiner, sagen, dass der alltäglich erfahrene Sozialismus anders gewesen sei, als er heute erzählt wird?
In meinen Augen regierte die DDR mit diktatorischen Mitteln, manchmal einer Logik folgend, manchmal im vorauseilenden Gehorsam, zum Ende willkürlich. Gefesselt im Kalten Krieg, mit einer Garde biederer Funktionäre, welche die Nazizeit im Gefängnis oder, kaum zu glauben, in der Sowjetunion der 30er Jahre überlebt hatten, blieb allen in der DDR immer weniger Platz zum Rückzug aus dieser Logik. Ein eigensinniges Handeln ohne den Staat war nicht möglich. Dieses Damoklesschwert war allgegenwärtig. Dennoch waren wir lebendig, wollten wir leben. Davon solltet Ihr berichten lassen. Die Umrahmung von DiasporaOst finde ich dabei nicht hilfreich. Vielmehr weicht Ihr ihn zur Unkenntlichkeit auf.
Angefangen in der Privatheit, dem Rückzug (in die Kunst > Wolfgang Hilbig als Autor, Jazz oder Neue Musik in der DDR), der Selbstständigkeit in seiner überschaubaren Gruppe (Kassettenkultur > Magnetizidat), dem Ausreizen von staatlichen Angeboten (Kunstszene in Hoyerswerda > Grit Lemke) oder mit vollem Risiko, letztendlich als Narr, sein Leben
einsetzend (Thomas Brasch). Dennoch musste jeder davon ausgehen, dass die Stasi mit am Tisch sitzt oder das gemeinsame Abendbrot vom Nachbarhaus observiert, um Zugriff zu haben.
Ihr unterstellt, dass die bundesdeutsche Herrschaftsgeschichte an Forschungsstellen zu dieser Zeit, in Feuilletons, in Ausstellungen, in Kunst und Pop, im Theater die Themen diktieren. Die Geschichten der Beherrschten dagegen werden für Euch durch einen „Legitimationsdruck“ zum Verschwinden gebracht.
Wen meint Ihr und wie drückt er sich aus?
In der DDR wären die von Euch vorgestellten Autoren mit ihren Büchern gar nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Ihr werdet von der Bundesstiftung zur SED-Diktatur und der Stadt Frankfurt am Main gefördert. Sind dies nicht aber genau die, welche Euer Meinung nach an solchen Geschichten, wie sie Grit Lemke am Beispiel Hoyerswerda im Einzelnen erzählt und Katja Hoyer mit dicken Pinseln so manches übermalend, relativierend mit wissenschaftlichem Anspruch darstellt?
Um Eurem Ziel, nach Konstanten vor und nach 1989 zu schauen, hätte ich anderes vorgeschlagen.
Warum habt Ihr beispielsweise, und da wäre Diaspora in der Diaspora ein richtiger Name gewesen, nicht Ereignisgeschichte, Darstellung und Resonanz des Fußballvereins RB Leipzig genommen, wo ein Westkonzern sich einen Verein kauft, um dabei ein leerstehendes Stadion zu nutzen, um den Verein als Dauerwerbeträger dazustellen? Gibt es Akzeptanz? Ein volles Stadion? Inwieweit steht RB mit Spielern aus vielen Ländern als positives Beispiel aktuellen politischen Debatten in Sachsen gegenüber? Wie stehen Künstler dazu? Ihr hättet den Schriftsteller Clemens Mayer fragen können. Schafft RB Leipzig neue Identitäten?
Am Beispiel des Leipziger Malers Neo Rauchs hättet ihr so einiges über Ängste, Träume und Wünsche von einer politischen Richtung, die man in der DDR nicht geglaubt hätte, dass sie überlebt hat und die seit 1990 sich laut äußert, erfahren. Ich meine die sehr konservativen bildungsbürgerlichen Reste im DDR-Sozialismus. Seine Strahlkraft in Ost und West und seine Verkaufserlöse sind spitze. Ihr hättet nach der Resonanz seiner Bilder fragen können, für was sie stehen und wo man sie besitzt, auch in Frankfurt:
Warum interessiert Ihr Euch nicht für Freien Jazz und Neue Musik in der DDR? Hier stand ein ästhetisches Konzept, welches die Grundlagen des Alten hinterfragt und am liebsten aufgelöst hätte, dem Staat zu Teilen nah war oder vom Staat nach und nach akzeptiert und wenigstens toleriert wurde. Neue Musik wurde über Auftragswerke protegiert. Auftrittsmöglichkeiten für Jazzmusiker gab es über die im Land verteilten Klubhäuser zahlreich. Neue Musik wurde im Radio gespielt und erhielt Platz in den Spielkalender der Klangkörper. Freier Jazz hatte in der DDR einen sehr großen Zuspruch. Als Ersatz der amerikanischen Free Jazz-Vorbilder fror das Interesse nach 1989 ein.
Ganz aktuell wäre noch ein Blick zur St. Petersburger Band „Shortparis“. Dieser Blick ist für mich wie ein Blick zurück, wie man mit subtiler Kunst gegen die reine Willkür versucht zu bestehen. „Shortparis“ gehören, soweit meine Informationen reichen, zur gegnerischen städtischen Diaspora des aktuellen Präsidenten. Ihr ästhetischer Balanceakt spätestens nach dem Krieg gegen die Ukraine erinnert mich sehr an DDR-Kunst. Jenes Besondere dort war, etwas wegzulassen oder ganz bewusst etwas zu sehr zu betonen. „Shortparis“ und die DDR-Band „Pankow“ traten beispielsweise zu sehr unterschiedlichen Zeiten (1989 und 2022) und in einem bestimmten politischen Kontext mit Gesangsgruppen der Roten Armee auf. Beide Male war dies ein klares Signal für eine bestimmte Haltung, welche jeder in der DDR und ich bin mir sicher, ebenso in Russland, sofort begriff oder begreift.

Ich für meinen Teil habe den „Gestank“ des Ostens bis 1989 nicht vergessen. Da ich ihn nicht abstellen oder wenigstens erträglich machen konnte, zog ich die parfümgeschwängerte Luft des Westens vor. Mir war klar, dass es hier auch stinkt, aber ich muss nicht so tun, als ob es herrlich riecht.
Mit diesen Gerüchen

Anhang:

Neu Rot

Mein Leben in der DDR in Ausschnitten als Ausstellung „Es geht ein Gespenst um in der Mitropa“.

Hier sind meine Aufzählungen von neuerer Literatur, aktuellen Medien, Wissenschaftsportalen und wissenschaftlichen Reihen, welche Eure Forderungen, die verschiedenen Erstarrungen und Brüche in der Geschichte der DDR und ihrer Erben, widerspiegeln.

Romane
Uwe Johnson (alles)
Gerd Neumann, Elf Uhr, 1981
https://www.deutschlandfunk.de/elf-uhr-100.html
https://literaturkritik.de/id/465
Wolfgang Hilbig, „Ich“, 1993
Wolfgang Hilbig, Das Provisorium, 2000
Clemens Meyer, Als wir träumten, 2006
Lutz Seiler, Kruso, 2014
Lutz Seiler, Stern 111, 2020
Christian Ahnsehl, Der Ofensetzer, 2020


Losgelöst

Lyrik
Wolfgang Hilbig
Helga M. Novak
Lutz Reimann
Gerald Zschorsch
Uwe Kolbe
Thomas Kunst

Comic
Anke Feuchtenberger, Genossin Kuckuck, 2023

Ausstellung
„Der große Schwof. Feste feiern im Osten“,
Ausstellung und Bildband in Kunstsammlung Jena 2023

Pop-Kultur
TV-Serie „Kleo“ 2022
„Baumarkt“
Band
aus Chemnitz
https://baumarkt.bandcamp.com

Wissenschaft
Auflistung wo man nachschauen kann, wer über was zur DDR-Geschichte forscht

Zeithistorische Studien, Schriftenreihe des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (bisher sind über 60 Bände zur Geschichte der SBZ/DDR, des geteilten Deutschlands und Osteuropas nach 1945 erschienen)

Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt, Herausgeber Institut f. Zeitgeschichte München-Berlin

Philipp Ther, Das andere Ende der Geschichte: Über die Große Transformation, 2016

Kata Krasznahorkai, Sylvia Sasse, (Herausgeber) Artists & Agents: Performancekunst und Geheimdienste, 2019

Podcast
111 Kilometer Akten. Der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs

Eliten in der DDR, MDR

„Ihr könnt mich umbringen“. DDR-Heimerziehung, MDR

RB Leipzig
Rasenball. Red Bull und der moderne Fussball, Undone u. MDR

Neo Rauch

Jazz und Neuer Musik in der DDR
Rainer Bratfisch, Freie Töne. Die Jazzszene in der DDR, 2005
Siegfried Schmidt-Joos, Die Stasi swingt nicht: Ein Jazzfan im Kalten Krieg, 2016
Ulrich Tadday, Musik der DDR?: Komponieren im real existierenden Sozialismus (MUSIK-KONZEPTE), 2022

Pankow und Shortparis

Pankow mit der Big Band des Stabes der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland 1989

https://www.concertarchives.org/concerts/pankow-33ae7caa-b2ab-4438-8c2e-1760091adb4f?photo=740495

Shortparis und der Хор ветеранов ВОВ и военной службы им. Ф. М Козлова 2023

https://www.youtube.com/channel/UC1cjNl1C3r4wLlp–YiJ1Xg