Vorzeit

20 Jahre voll mit Geschichten aus der Volkswirtschaft
Nr. 1: Vorzeit

„Fopper. Hallo! Na wie geht’s? Gestern war es wieder voll bei Euch. Als erstes würde ich gerne einen Espresso nehmen. Hier habt doch diese Vibiemme-Kaffeemaschine? Hoffentlich entkalkt ihr die immer.“

20 Jahre in der Gastronomie scheinen eine halbe Ewigkeit zu sein. Von oben betrachtet, ist nichts passiert. Die Kneipe ist ein Kampf gegen die Zeit. Hier verändert sich nichts. Die Zeit bleibt stehen. Die Welt wird draußen gelassen. Ihre ständige Unruhe schafft Ungemach. In der Kneipe darf sich nur der Zapfhahn bewegen. Nur wenn das Bier ausbleibt, gibt es Handlungsbedarf. Dann geht man in die nächste Kneipe.
Natürlich ist das alles Quatsch. Gerade in Frankfurt in unserem Stadtteil Bockenheim, wo in den 70er gleich neben der Kneipe einige prominente Politiker am Werk waren beispielsweise in der Karl-Marx-Buchandlung oder um die Ecke im Stadtteil Westend, wurde kräftig Unruhe in die Welt gesetzt, was an den Kneipentüren nicht halt gemacht hat.
Ältere Gäste nicken bedächtig. In der Jordanstraße 13 gab es immer eine Wirtschaft. Daneben (heute der Kiosk Herr Hassanmann) war ein Metzger. Vor der „Volkswirtschaft“ hieß der Laden „Campus“, in den 70er „Jordaneck“. Der Schriftsteller Peter Kurzeck beschreibt in einem Brief  an einen Freund 1981 die Jordanstraße u.a. einen unserer Vorgänger dort:
„Noch eine Kneipe das Jordaneck (warst du nie drin), da haben sie es immer noch mit ihrem Adolf und wenn wir den Krieg gewonnen hätten gäbs heutzetach keine Langhaarigen! Vom Atlantik bis zum Ural nicht! Noch die Frage, ob Chinesen zum Beispiel, ob sie da überhaupt welche übrig gelassen hätten? Bloß die blonden blauäugigen mit und ohne Zopf.“

Version 2

1981. Auszug eines Briefes von Kurzeck. http://www.aulbach-giessen.de/html/1981-frankfurtbrief.html

1982. Blick von der Homburger Str. auf den „Tannenbaum“, der links ist auf Ecke Jordanstr. Rechts geht es zur Vowi. Man beachte den DKP-Aufsteller, wo Peter Kurzeck gleich vorbei geht. http://www.aulbach-giessen.de/html/kurzeck-jordanstrasse.html

1982. Blick auf Jordanstraße. Von Ecke Jungstraße, Unser Haus ist erkennbar.

1982. Blick auf Jordanstraße. Von Ecke Jungstraße. Unser Haus ist erkennbar. Peter Kurzeck überlegt noch. http://www.aulbach-giessen.de/html/kurzeck-jordanstrasse.html

Den einen oder anderen Bezug zur Vorzeit der Kneipe gibt es.

Arnold, ein junger Arzt aus München, wohnte über der Kneipe. Er war ein bedeutender Stammgast und unser Kneipenarzt. Nachts schauten wir uns gerne seine Pathologiebücher auf dem Tresen an und lauschten seinen Vorträgen. Arnold erzählte, dass sein Großvater im Haus, vielleicht sogar in der selben Wohnung, in der er lebte, in den 40er oder 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Liebchen hatte.

Eine andere Geschichte orakelt hoffentlich nicht meine Zukunft. Eines Tages erschien ein älterer Man im Rollstuhl. Er sah müde, traurig und gehetzt aus. Er bestellte ein Pils. Auf einmal bewegte er sich im Rollstuhl vom Gastraum in Richtung Küche. Er kam nicht weit. Im Rollstuhl sitzend, ist es nicht einfach, die Küchentür aufzuhalten, um durchzufahren. Er zeigte ins Treppenhaus. Er wohne dort. Er müsse nach oben, gab er auf meine verwunderte Nachfrage an. Es stellte sich heraus, dass er der Wirt vor 40 Jahren (Jordaneck ?) gewesen sein muss. Der alte Mann wollte nach Hause. Er lebte wohl damals über seiner Kneipe, in der sogenannten Wirte-Wohnung. Nach der ersten Verwirrung durfte ich in seine Rollstuhltasche greifen. Dort befand sich ein Portemonnaise mit einem Geldschein und seinem Ausweis. Eine Adresse wurde nicht gefunden. Nach einigem Hin und Her war klar, dass er aus einem unweit gelegenem Pflegeheim in seine Vergangenheit gerollt war. Seine Gegenwart hatte er in seiner alten Kneipe vergessen. Freundliche Gäste brachten ihn zurück.

Den dritten Bezug erbrachte Flo, der eigentlich im „Tannenbaum“ eine Straßenecke weiter seine Biere trinkt. Er bemerkte, dass bei seiner Oma ein altes Foto mit seinen Vorfahren hängt. Diese würden aufgereiht vor der „Volkswirtschaft“ stehen. Flos Oma hatte nichts dagegen, das Foto zu kopieren. Und ich sah, die Familie von Flos Urgroßvater stand im Jahr 1915 vor der Apfelweinwirtschaft, benannt nach ihrem Familiennamen „Ungeheuer“, in der Jordanstraße 13.

2013. Rechts ist Flo zu sehen. Ein Bild für seine Oma.

2013. Rechts ist Flo zu sehen. Ein Bild für seine Oma.

1915.
Restauration „Ungeheuer“ mit Fritz, Emilie, Marie und Heinrich Ungeheuer (von links) auf der Jordanstrasse 13

Dies schrieb die Oma von Flo zum Foto von 1915.

2013. Dies schrieb die Oma von Flo zum Foto von 1915.

Die Geschichte dieses Fotos ergibt den Rahmen und ein Motiv für das Motto des Kneipengeburtstages:
Seit 100 Jahren eine Wirtschaft, immer hier, zwei Dekaden wir!
20 Jahre voll.
Volkswirtschaft, seit 1997.

Ich möchte mich noch einmal ausdrücklich bei Flo und seiner Oma bedanken, dass sie mir eine Kopie des Fotos gegeben haben und ich es (im Namen der Kneipe) verwenden darf. Dazu schrieb sie auf, was sie darüber weiß.

„Ich würde gerne zahlen, Fopper. Du riechst heute wieder so gut!“