Sonntag, 8. Oktober 2000

Da bin ich mit unserem Außenminister wieder einer Meinung – auch ich würde den Tag der Maueröffnung lieber als Feier- und Gedenktag sehen als den jetzigen Tag der Einheit. Gerade, weil auf dieses Datum auch die Erinnerung der Progrome der Nazis gegen die Juden in Deutschland fallen, halte ich ihn für besonders geeignet: Kann man sich nicht über die Maueröfnung freuen, die durch die Demonstrationen der DDR-Bürger und durch die Blödheit der SED erreicht wurde und gleichzeitig der Gewalt gegen Juden in Deutschland gedenken? Hängt denn in Deutschland nicht vieles fast untrennbar zusammen oder ist (auch wenn es viele nicht häören wollen) immer noch gegenwärtig?
Ich erinnere mich noch an die Demonstrationen im Herbst ’89 in Leipzig. Damals war mir auch mulmig zumute und nicht nur wegen der Polizei. Ich fand die vielen verschiedenen Menschen, die sich auf einmal alle in der Leipziger Innenstadt einfanden und lauthals die bekannten Parolen riefen, befremdlich. Waren darunter nicht genau auch die, die meinen Freunden und mir konsequent das Leben schwer gemacht haben, weil wir eine große Fresse hatten, lange Haare trugen, laute Musik hörten oder keine Lust auf einen DDR-typischen Beruf hatten.
Und heute, 11 Jahre später, kann mir es genauso mulmig werden, weil ich vielleicht mit dem Nachnamen Spiegelmann oder so ähnlich heiße, dunkelhäutiger bin als mein Nachbar, eine Krause habe oder täglich an der Frankfurter Synagoge vorbeifahre und dort von einem Brandsatz getroffen werden könnte.
Deshalb würde ich lieber am 9. November mir so meine Gedanken machen wollen, als am 3. Oktober, wie fast immer dienstags als Gastwirt meinen Laden zu putzen.


Euer IM Vowi