Sonntag, 1. Oktober 2000



Anläßlich des Feiertages -der für mich eigentlich keiner ist, denn ich würde den Mauerfall als würdigeren Tag empfinden- veröffentliche ich mal etwas aus meinem Tagebuch und zwar vom 20. Oktober 1989. Einiges wird wohl dem heutigen Leser unklar erscheinen, dennoch ist es meiner Meinung nach typisch für meine Freunde und mich in der DDR gewesen. Ich war 23 Jahre alt, hatte meine Arbeit in der Deutschen Bibliothek gekündigt und im Sommer einen Ausreiseantrag gestellt, war schon mit meiner Frau Claudia zusammen, hatte wieder mal kurze Haare, trug eine Motorradjacke, hörte Zappa, Peter Hammill, Peter Gabriel oder Miles Davis, machte Musik, aß Brötchen und Käse, an Süßigkeiten Krokant und Gummibären für 10 Pfennige das Stück, trank schwarzen Tee, rauchte und las Tolstoi und Fedin und (weil es nichts anderes gab) die Leipziger Volkszeitung:

Ich erhielt Nachricht, daß J. in Budapest angekommen ist. Er wird also bald im Westen sein. Ich beneide ihn natürlich und hoffe, daß ich nicht mehr lange warten muß. Aber wer weiß dies – Vertrauen habe ich in unseren Staat, wie viele, überhaupt nicht. Abwarten und Tee trinken. Ich war heute bei Inneres (das Ministerium des Inneren kümmerten sich um Ausreiseanträge), um wegen des Antrages nachzufragen. Mir wurde mitgeteilt, daß (ich) dienstags zur Sprechstunde wiederzukommen habe. Auf meiner Schwesters Rat werde (ich) regelmäßig dorthin gehen. Vielleicht verfasse ich auch etwas Schriftliches…
Gestern war ein Abschiedstag; da wir -C. und ich- H. und N. erklärten, daß J. weg (ist)
Mit B. und meiner Nachbarin S., einer Theo-Studentin, schwätzte ich noch über die DDR und die Zukunft. Ihre Ideale tröpfeln ihren Realitätssinn, und was kommt dabei raus – die Nicht-Tat, das heißt, ich mache mehr oder weniger mit. Dann habe ich lieber J. und H.- Theorie vom ständig machtmißbrauchenden Politiker, d.h., ich mache nichts, aber ich will leben und erkenne die Realitäten an. Ich bin auch für Anarchie im Sinne von Freiheit. Aber diese Begriffe!…
Wenigstens funktioniert der Kapitalismus, wohingegen der Sozialismus eine teilweise Schande ist.



Euer J. Gauck