Unser Mann in Brasilien: Jorge Ubaldo Bahia

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Ich heiße Jorge Ubaldo Bahia,
werde aber von allen Cristo genannt, weil ich schmal, hager und recht ernst aussehe. Und dazu mache ich, wenn ich ein Tor im Verein geschossen habe, den „stehenden Adler“, was an unsere Christo Redentor-Statue, die ein Wahrzeichen meiner Stadt ist, erinnern soll.

Ich wohne in Rio in der Favela Mangueira gleich neben dem Maracana Stadion. Mein Vater ist gerade aus dem Knast gekommen und schaut den ganzen Tag Telenovelas.
Meine Mutter putzt im neuen Maracana für 250 €. Ich habe drei Geschwister. Ich will Fußballprofi werden. Meine beiden Schwestern versuchen, seitdem sie fünfzehn sind, sich beim Karneval einen Europäer zu angeln. Aber die wollen sie nur flachlegen. Die blöden Trinen denken – ach, was rege ich mich auf…

Früher haben wir an Straßenkreuzungen wartende Autos ausgeraubt. Die Autos mussten bei Rot stehen bleiben. Einer hat die Scheibe mit einer Eisenstange eingeschlagen und solange weitergemacht, bis der Fahrer uns genügend Geld hingeworfen hat. Einmal wollten wir zwei Europäer filzen, die uns zufällig auf der Straße begegneten. In unserem Viertel zwei Europäer!, die mussten wahnsinnig sein, dachten wir. Der eine war gar nicht so groß. Aber er ließ uns keine Chance. Der andere, ein angetrunkener mit langen blonden Haaren, schaute nur zu. Die haben uns so fertig gemacht und mit Kabelbinder gefesselt, dass uns wochenlang alles weh tat. Zum Krankenhaus musste meine Familie mich tragen. Der Bus brauchte länger als wir, wegen des nachmittäglichen Staus. Außerdem sparten wir die Tickets. Die kosten 1 €. Im Krankenhaus angekommen, warteten wir fast sechs Stunden, weil ich kein Notfall war.

Ich bin seitdem „geheilt“ und lasse solche Sachen. Ich trainiere beim CR Flamengo. Vielleicht steigen wir aus der ersten Liga ab. Egal!

Zur WM schaue ich Fußball, wenn unser alter Fernseher geht. Selbst die Telenovelas interessieren dann keinen. Ins Stadion kann ich nicht gehen. Die Karte würde um die 80 – 100 € kosten. Woher soll ich das Geld nehmen. Es reicht jetzt schon kaum bei 250 € im Monat. Mein Trainer hat mir erklärt, dass meine Familie zur neuen brasilianischen Mittelklasse gehöre. Ein Viertel aller Brasilianer lebt von nur 30 € im Monat. Die müssen dann wirklich die Mülltonnen nach Verwertbarem absuchen. Eigentlich hätten wir aus unser Favela weg gemusst, weil die Fifa bestimmt hatte, dass überall, wo es neue Stadien gibt, Parkplätze gebaut werden sollen: für 60 Plätze im Stadion ein Parkplatz. Überleg mal, wie viele Parkplätze das bei über 70000 Plätzen geworden sind. Wir hatten Glück. Wir mussten nicht weg.

Im Maracana wird alles anders zur WM. Nichts mehr aus Brasilien wird es geben. Nur noch amerikanisches und europäisches Essen. Aber zum Glück gibt es wieder Bier. Mein Trainer sagt, dass die Fifa schlauer ist als die Amerikaner. Die brauchen hier in Brasilien nicht viele Steuern zu zahlen. Den Großteil ihrer Verträge haben sie in Europa in der Schweiz, wo jetzt Cajo spielt, unterzeichnet.
Mein Land bekommt aus den TV-Rechten und den Marketing-Verträgen nichts. 10 Milliarden soll die WM gekostet haben. Ich habe keine Ahnung, wie viel Geld das ist. Ich weiß nur, dass die Dorftrottel oben in Manaus am Amazonas in Nordbrasilien kein neues Stadion brauchen, denn die spielen in der dritten Liga, oder vielleicht sind sie schon in die vierte Liga abgestiegen.

In die Schule gehe ich regelmäßig, aber manchmal habe ich einfach keine Lust, es nervt und wozu das Ganze. Ich muss spielen, um endlich ein peneira, was so die Art Prüfung nach Altersjahrgängen (U11, U13, U15, U17, U20) ist, bestehen. Erst wenn ich dies gepackt habe, kann ich durchatmen. Dann verdiene ich mein erstes Geld.

Alle brasilianischen Fußballer werden gesiebt. Wer denkt, hier kicken alle am Strand, der täuscht sich. Ich steige dann mit Flamenco auf und gehe nach Europa. Mein Berater sucht mir einen großen Verein.

Ich glaube, mir würde Eintracht Frankfurt gut gefallen. Der Flughafen ist nicht weit, um nach Rio zu fliegen. Und ich könnte bestimmt mit ein paar Jungs im renovierten Grüneburgpark kicken und ihnen alle Tricks von Zico, Romario, Ronaldo und Cajo zeigen. Der Eintracht Frankfurt Oberscout Bernd Hölzenbein ist ja zur WM hier. Vielleicht entdeckt er mich mit seinem Adlerblick.

Mein WM-Endspiel-Tipp lautet Brasilien-Deutschland. Mein Land verliert 1-2, aber die FIFA hat schon alles geregelt…, dass es nicht so weit kommen wird, sonst explodiert hier alles.


Quellen:
Vowi-Gäste (Sascha, Andi, Alex)

11Freunde, Nr. 53, April 2006, Die Spielerfabrik. Wie Brasilien die Welt mit Fußballern versorgt., S. 30
11Freunde, Sonderheft WM 2014, Schlechte neue Welt. Wie die FIFA und die Weltmeisterschaft die Seele des Maracana töten., S. 148

Berenberg/HWWI – Studie: Brasilien und die Fußball-WM 2014

http://www.sueddeutsche.de/sport/brasilien-alle-wm-stadien-im-ueberblick-1.1836889

http://de.wikipedia.org/wiki/Proteste_in_Brasilien_2013

Konrad Adenauer Stiftung, Hrsg.,
Länderbericht März 2013,
Brasiliens Mittelklasse wächst – was sind die politischen Folgen?

Der Rest ist frei erfunden.